Trotz großer Mühe, die sich Kirstin N. bei der Körperpflege und ihrem äußeren Erscheinungsbild gibt, bemerkt sie immer mehr Spuren des Alters. Das bedrückt und belastet sie. Julia Peirano findet einen Ansatz, der ihr helfen könnte.
Liebe Frau Peirano,
ich bin 43 und arbeite in der Gastronomie. Ich habe immer viel Wert auf mein Äußeres gelegt, also gute Hautpflegeprodukte, Haare gefärbt, schminke mich täglich, gehe ins Solarium.
Aber seit ein paar Jahren merke ich, dass ich mich doch verändert habe. Ich habe Zellulitis an den Oberschenkeln, die Hüften sind breiter als vorher, die Brüste hängen und den Bleistifttest bestehe ich nicht mehr. Ich habe Falten, und ich merke das auch an der Reaktion der Gäste. Die Männer sind nicht mehr so aufmerksam wie früher, und wenn ein attraktiver Mann mit weiblicher Begleitung kommt, ist sie meistens deutlich jünger als ich.
Ich war lange mit einem Mann zusammen und wir haben eine Tochter (15 Jahre alt). Seit der Trennung hatte ich eher kürzere Partnerschaften. Jetzt bin ich seit 4 Monaten mit einem sehr attraktiven Mann zusammen. Er macht mir aber selten Komplimente, höchstens sagt er mal: „Hübscher Rock“ oder „hast dich doch gut gehalten“. Ich habe aber Sorgen, dass er mich nicht wirklich attraktiv findet, sondern eher mit mir zusammen ist, weil ich gutmütig bin, eine schöne Wohnung habe und er von mir verwöhnt wird.
Meine Freundinnen sind zum Teil sogar älter als ich und haben das gleiche Problem. Es ist wirklich kein leichtes Alter für eine Frau! Ich denke darüber nach, mir Botox zu spritzen und an eine Bruststraffung habe ich auch schon gedacht. Ehrlich gesagt, ist es mir zu teuer.
Haben Sie ein paar Tipps für mich, wie ich mit dem Älterwerden umgehen kann?
Viele Grüße
Kirstin N.
Liebe Kirstin N.,
ich finde es interessant, dass Sie mir schreiben – als einer Psychotherapeutin – und nicht einer Ärztin, die auf plastische Chirurgie spezialisiert ist. Also erhoffen Sie sich eine Antwort, die nicht auf das Äußere abzielt („Verbesserung“ des Aussehens, „Verjüngung“, Straffung), sondern Sie versuchen, einen inneren Umgang damit zu erlernen, dass Sie älter werden.
Und ehrlich gesagt freut mich das!
Es gibt diesen (nicht besonders lustigen, aber dafür sinnigen) Witz, in dem ein Mann abends unter einer Laterne etwas sucht. Ein Passant fragt ihn, was er verloren habe. Er antwortet: „Meinen Schlüssel“. Nach einer halben Stunde gemeinsamen Suchens fragt der Passant, wo er den Schlüssel denn verloren habe. Die Antwort: „Dahinten auf der Wiese.“ Darauf fragt der Passant verwirrt: „Und warum suchen Sie dann hier?“ Der Mann sagt überzeugt: „Na, weil ich hier besser sehen kann!“
Wir alle suchen oft dort, wo es hell ist und wir vermeintlich besser sehen können. Dafür gibt es unzählige Beispiele: Wir häufen Geld an und kaufen teure Dinge, die wir nicht brauchen, um uns „glücklich“ zu machen. Darüber vernachlässigen wir unsere Freunde, verspüren Leistungsdruck und Stress, und sind vom Glück weit entfernt.
Noch ein Beispiel: Wir gehen auf schicke Partys und machen für soziale Medien Fotos mit fremden Menschen, die uns nichts bedeuten, anstatt uns mit den Dingen zu beschäftigen, die wir wirklich gerne machen (zum Beispiel im Wald spazieren zu gehen oder ein Instrument zu spielen).
Die fernöstlichen spirituellen Schulen wie der Buddhismus oder das Yoga haben diese Probleme schon lange erkannt. Sie raten: Alles, was außen ist, ist vergänglich. Dein Körper (und dessen Jugend) vergeht, Beziehungen zu anderen Menschen verändern sich, und materieller Besitz ist letztlich auch nur etwas, dem wir anhaften und das uns Angst macht, es zu verlieren.
Die fernöstlichen Schulen raten deshalb: Suche das Glück innen, in dir selbst. Und zwar in deinem „Selbst“, das niemals vergeht. Ich persönlich finde das einen sehr kostbaren Rat. Es hilft sehr, wenn man sich immer wieder mit sich selbst beschäftigt und sich mit dem eigenen Wesenskern anfreundet.
Sie schildern sich selbst eher so, als würden Sie sich von außen betrachten und taxieren. Vielleicht so, als würden Sie ein Foto von sich sehen und bewerten (Daumen hoch, Daumen runter) oder sich schon die Kommentare der Betrachter vorstellen: „Ist ja auch nicht mehr die Jüngste.“ Es hört sich so an, als wenn Sie Ihren Wert überwiegend dadurch bemessen, wie Sie aussehen. Dabei fällt unter den Tisch, wie Sie als Mensch sind, was Sie mögen, was für Werte Sie haben, was Sie besonders gut können, wer Ihnen wichtig ist und was Sie für die Menschen bedeuten, die in Ihrem Leben sind. Stattdessen steht im Vordergrund die Frage: Wie sehe ich aus? Und wie kann ich mein Aussehen verbessern? Beurteilen Sie andere Menschen auch überwiegend nach deren Attraktivität?
Es ist in unserer Gesellschaft fast krankhaft, wie viel Druck auf Menschen und insbesondere Frauen ausgeübt wird, dem Schönheitsideal zu entsprechen.
Empfehlenswert ist zu dem Thema das Buch:
Melody Michelberger: Body Politics
Peirano Juni 4 Schwester verbal aggressiv 19.45
Möglicherweise ist Ihr attraktiver neuer Freund ja auch dazu da, um Ihre Attraktivität zu „messen“ und unter Beweis zu stellen? Nach dem Motto: „Wenn ich einen so gut aussehenden Freund habe, muss ich ja auch attraktiv sein.“ Aber dann meldet sich der Zweifel: „Oder vielleicht nicht? Vielleicht nutzt er mich nur aus? Oder ihm gefällt eines Tages eine Jüngere und Schönere?“ Es ist immer Stress, sich zu messen und in einen Wettkampf zu treten.
Gibt es denn andere Qualitäten, die Sie an Ihrem Freund mögen oder lieben, abgesehen von seinem Aussehen?
Ich befürchte, dass man nicht gewinnen kann, wenn man nur auf seine Attraktivität setzt. Zum Einen werden wir wirklich alle älter, und in unserer Gesellschaft wird Attraktivität gemeinhin mit Jugendlichkeit gleichgesetzt. Auch wenn Heidi Klum mit ihrer Tochter in Unterwäsche posiert und damit aussagen will, dass ihre Schönheit (noch) nicht vergeht und sie mit ihrer Tochter mithalten kann (die durch die Kampagne auch sexualisiert wurde). Das ist schon eine schräge Geschichte, dass diese Fotos öffentlich aushingen.
Doch genau das ist typisch für unsere Gesellschaft: Wir lernen nicht mehr, in Würde älter zu werden und dabei unsere Jugend souverän loszulassen. Wir können als Frauen (und das gilt natürlich auch für Männer) natürlich schön bleiben, aber mit 50, 60 oder 70 sind wir nicht mehr jugendlich schön, sondern reife, lebenserfahrene Menschen.
Ich befürchte, dass Sie die Situation verschlimmern würden, wenn Sie den Kampf um Ihre äußere Schönheit exzessiv betreiben, also sich Botox spritzen oder die Brüste operieren lassen. Was käme dann als Nächstes? Wieder ein äußerer Wunsch zur „Verbesserung“ des Aussehens, und der würde vermutlich eine weitere Operation oder Maßnahme nach sich ziehen.
Eine Daumenregel, um zu sehen, was ok ist und was nicht, ist die Frage: Würden Sie wollen, dass Ihre (echte oder nur vorgestellte) Tochter das Gleiche macht? Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass meine Tochter Sport treibt, weil Bewegung stärkt, Stress abbaut, gesund ist und zusätzlich den Körper strafft. Also finde ich es auch für mich wichtig, Sport zu treiben. Würde ich aber wollen, dass meine Tochter sich Fett absaugen lässt? Hier wird mein Wert klar, was ich eigentlich von der Maßnahme halte. Und wenn ich es für meine Tochter nicht wollen würde, sollte auch ich die Finger davon lassen!
Wie wäre es, wenn Sie auch mal den einen oder Blick nach innen wagen? Sie könnten als ersten Schritt mal genau nachspüren, wie Sie sich fühlen mit dem Älterwerden. Vielleicht bemerken Sie Traurigkeit oder Sorgen oder auch Neid. Was auch immer Sie fühlen, wäre es wichtig, das da sein zu lassen und zu akzeptieren. Schreiben Sie doch auch ein Gefühlstagebuch, in dem Sie liebevoll und geduldig aufschreiben, was Sie fühlen, was für Sie Bedeutung hat, was Sie traurig macht, womit Sie sich innerlich beschäftigen. Hören Sie sich zu, und lassen Sie sich all diese Dinge fühlen, ohne eine Lösung finden zu müssen (Operation, Botox, Friseurtermin) oder ohne sich dafür abzuwerten, dass Sie diese Dinge fühlen. Es geht erst einmal nur um Selbstakzeptanz!
So können Sie vielleicht mit der Zeit das eine oder andere Gefühl verarbeiten und loslassen, und Sie geben sich innerlich das Gefühl, dass Sie in Ordnung sind! Das wäre ja schon einmal ein Gegensatz zu Ihrer Kritik an Ihrem Äußeren, das für Sie ja nicht mehr in Ordnung ist. Versuchen Sie doch, interessierter und geduldiger mit sich und Ihrer Gefühlswelt zu sein.
An der Stelle ist viel mehr Zufriedenheit oder Glück zu erlangen, als wenn Sie sich so stark (und so kritisch) mit Ihrem Äußeren beschäftigen. Zugegebenermaßen sind beide Wege etwas anstrengend und steil, aber der Weg, sich mit sich selbst anzufreunden, ist erfolgsversprechend. Ewig jung aussehen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt.
Herzliche Grüße
Julia Peirano
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