Bei Olympia ist auf Vielseitigkeitsreiter Michael Jung stets Verlass. Der 41-Jährige holt sich bereits sein viertes Gold. Der Papa schaut nicht hin.
Vor der traumhaften Kulisse im Schlosspark von Versailles riss Michael Jung nach dem vierten Olympia-Gold die Faust in die Höhe und gab seinem Pferd Chipmunk einen Kuss. Der Vielseitigkeitsreiter behielt im entscheidenden Umlauf die Nerven, leistete sich keinen Fehler mehr und krönte sich wieder zum Olympiasieger. Sein Vater und Trainer hatte gar nicht hinsehen können, weil der Druck für den letzten Starter so groß war.
„Das ist schon etwas ganz, ganz Außergewöhnliches, etwas Besonderes“, schwärmte der Reiter später mit der Goldmedaille um den Hals. „Ich habe versucht, hier Schritt für Schritt zugehen. Ich habe an alles andere gar nicht gedacht. Das wird etwas Zeit brauchen, bis ich das realisieren kann.“
Kurz nach dem Sieg hatte er in der ARD gesagt: „Ich habe wacklige Knie. Ich bin so dankbar meinem Pferd gegenüber. Er hat mich wieder gerettet.“ Er „habe dreimal auf die Tafel gucken müssen, ob es wirklich stimmt. Ich bin ein bisschen geflasht. Das war eine wunderbare Woche.“ Jung setzte sich hauchdünn mit 21,8 Strafpunkten vor dem Australier Christopher Burton mit Shadow Man (22,4) und der Britin Laura Collett mit London (23,1) durch.
Fehlerfrei im entscheidenden Umlauf
In der ersten Runde hatte sich der 41-Jährige aus Horb noch einen Abwurf geleistet und damit unfreiwillig für noch größere Spannung gesorgt. Doch als es darauf ankam, waren Reiter und Pferd voll da. Nur der Papa sah es nicht, er hörte nur den Jubel der rund 14.000 Zuschauer.
„Ich habe mir das Springen nicht angeschaut“, berichtete der stolze Papa später: „Das ist das erste Mal, dass ich nicht hingucken konnte. Es war so ein Druck für ihn. Alle vor ihm reiten null, und dann muss er das als Letzter auch erstmal schaffen. Die erste Runde haben ich noch gesehen, die zweite habe ich heute nicht geschafft.“
Die Spannung war tatsächlich biss zum letzten Sprung unfassbar, denn Jung durfte sich keinen Patzer leisten. „Das war ein absoluter Krimi“, kommentierte Sportchef Dennis Peiler. Es war wie eine Achterbahnfahrt mit einem wunderschönen Ende. Ich gönne es Michi vom Herzen, dass er seine Gold-Mission mit Chipmunk erfolgreich abgeschlossen hat.“
Dier rund 15.000 Zuschauer bejubelten den deutschen Reiter bei der Siegerehrung und der letzten Ehrenrunde, bei der Jung seine Kappe abnahm und ins Publikum jubelte. „Nach der Enttäuschung mit der Mannschaft ging der Wettkampf weiter, und ich freue mich riesig über das Gold“, kommentierte Bundestrainer Peter Thomsen: „Michi hat seinen Traum wahr gemacht, darüber bin ich mega-glücklich.“
In der ersten Runde war die Konstellation bereits ähnlich gewesen. Aber Jung patzte, kassierte mit einem Abwurf vier Strafpunkte – und profitierte anschließend von Fehlern der Konkurrentin Britin Laura Collett mit London. So bekam er eine zweite Chance. „Ein Fehler im falschen Turnier, ja“, kommentierte Jung seinen Abwurf, den einzigen Fehler in drei Teilprüfungen.
Erneut souverän
„Was der für eine Kraft hat, für eine Ruhe, das ist wirklich phänomenal“, lobte Jung sein Pferd. Souverän steuerte er sein Pferd durch den zweiten Parcours und sicherte sich erneut Gold. In London 2012 hatte er im Einzel und mit der Mannschaft triumphiert, vier Jahre später in Rio gab es nochmal Gold im Einzel und Silber mit der Mannschaft. Er ist der erste Vielseitigkeitsreiter mit drei olympische Einzel-Goldmedaillen.
Grundlage für die Medaille von Versailles war nach Platz zwei in der Dressur vor allem der starke Geländeritt am Sonntag, der ihm die Führung vor dem Springen einbrachte. Seine Kollegen waren beeindruckt. „Wir haben den weltbesten Reiter in unserem Team“, schwärmte Christoph Wahler. „Ich finde es genial, was er für eine ruhige und selbstverständliche Art und Weise hat mit seinen Teamkollegen und seinem Pferd.“ Jung macht in Paris „das, was er immer macht. Er ist in meinen Augen der perfekte Pferdemann.“
Ausgebildet wurde Chipmunk von Julia Krajewski, die in Versailles mit ihrem jungen Pferd Nickel eine starke Leistung zeigte. Die 35-Jährige, in Tokio Gold-Gewinnerin mit Amande, blieb in beiden Runden ohne Abwurf. Sie ritt damit auf Rang elf.
Start trotz Sturz
Trotz seines Sturzes am Vortag im Gelände ritt auch Wahler die erste Runde des Springens. Das deutsche Team erhielt dafür 200 zusätzliche Strafpunkte und landete im Schluss-Ranking auf Rang 14. Gold ging an Großbritannien vor Frankreich und dem Überraschungsteam aus Japan.
Wahlers Start war nur wegen einer Besonderheit des Olympia-Reglements möglich. Während bei allen anderen Vielseitigkeitprüfungen ein Sturz die Disqualifikation für den gesamten Wettbewerb bedeutet, ist es bei den Olympischen Spielen möglich, nach einer positiven tiermedizinischen Untersuchung am anderen Tag wieder zu reiten. Diesen Vet-Check hatte Wahlers Pferd Carjatan am frühen Montagmorgen bestanden.
Für die Einzelwertung war Wahler jedoch disqualifiziert. „98 Prozent der ganzen Geschichte waren gut, aber am Ende ist es ein katastrophales Ergebnis“, kommentierte der 30-Jährige aus Bad Bevensen nach seiner Null-Runde im Springen. „Das ist natürlich frustrierend, wenn man gesehen hat, wie Carjatan heute gesprungen ist. Es wäre alles möglich gewesen.“