In Hanoi büffelt die Krankenschwester Trinh Hoang, 25, Deutsch für ihr neues Leben als Pflegeschülerin in Cottbus. Worauf freut sie sich? Wovor hat sie Angst? Protokoll eines Aufbruchs ins Ungewisse.
Deutschland wird immer älter, es fehlt ausgebildetes Fachpersonal. In zehn Jahren könnte diese Lücke auf bis zu 350.000 Pflegekräfte ansteigen. Deshalb werden gezielt Fachkräfte im Ausland angeworben, zum Beispiel in Vietnam. Dort ist die Gesellschaft vergleichsweise jung. Das sogenannte Triple-Win-Abkommen bringt Vietnamesinnen und Vietnamesen als Arbeitskräfte nach Deutschland. Im Jahr kommen so 90 bis 100 Pflegekräfte nach Deutschland.
Hier werden sie als Auszubildende eingestellt, lernen für drei Jahre abwechselnd in der Berufsschule und im Krankenhaus oder Pflegeheim, bevor sie dann reguläre Pflegefachpersonen sind.
Eine von ihnen ist die 25-Jährige Trinh Hoang. Derzeit lernt die junge Krankenschwester an der Universität in Hanoi Deutsch. In wenigen Wochen wird sie nach Cottbus fliegen. Was hat die junge Vietnamesin für Vorstellungen von Deutschland? Was erhofft sie sich von ihrer neuen Heimat?
Cottbus – darüber weiß ich nicht viel. Ich weiß nur, dass es eine nicht so große Stadt ist und viele grüne Flächen hat. Das wird mir bestimmt sehr gut gefallen, denke ich. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Cottbus, 100.000 Einwohner; Hanoi, 6,5 Millionen Einwohner.
1000 Vokabeln, 1000 Fachbegriffe täglich
Am Campus der Universität Hanoi bereite ich mich auf mein neues Leben vor: Intensivkurs Deutsch. Jeden Tag gefühlt 1000 Vokabeln, 1000 Fachbegriffe, 1000 Herausforderungen. Es gibt so viele Schwierigkeiten mit dem Deutsch lernen. Und nicht nur das. Schockiert hat mich, dass es so viele lateinische Begriffe in der deutschen Medizin gibt. Aber ich bin ehrgeizig und fleißig, war schon immer gut in der Schule.
Jeden Tag 1000 Vokabeln, 1000 Fachbegriffe. So viele Begriffe auf Latein! Trinh Hoang lernt für ihre Ausbildung in Deutschland
Meine ersten Erfahrungen vor einem Jahr mit Deutsch: Duolingo (eine Sprachlernapp) und „Nicos Weg“ – ein Film, mit dem man Deutsch lernen kann. Jetzt, ein knappes Jahr, später spreche ich schon fast fehlerfrei, auch wenn ich manchmal noch nachfragen muss, wenn jemand zu schnell spricht. Bald werde ich nicht mehr hier in Vietnam Deutsch lernen. Ich werde Deutsch sprechen in Deutschland. Ich werde Menschen pflegen.
Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Mitte des Landes, aus der Provinz Nghệ An. In meinem Dorf gibt es Reisfelder und eine sehr schöne Natur. Bei meiner Oma bin ich aufgewachsen, denn meine Mutter ließ sich scheiden und ließ mich zurück, da war ich vier. Erst später begriff ich, dass meine Mutter keine Wahl gehabt hatte. Dass auch sie gelitten hatte, jeden Tag, jede Nacht. So führte die Zeit uns wieder zusammen, in der Universitätsstadt, wo meine Mutter nun lebte. Wir sahen uns wieder öfter, ich zog bei ihrer neuen Familie ein. Leben in einer „Patch-Work-Familie“. Die Liebe kam zurück, so sehe ich es heute.
Meine Perspektive wandelte sich, aus einer gescheiterten Familie kam ich an einen Ort der Freude, des Zusammenhalts. Das ist ein Grund, wieso ich gern Menschen helfen will und wieso ich Krankenschwester geworden bin. Ich habe zwar eine starke Leidenschaft für die Literatur und das Schreiben, aber damit hat man es schwer, eine gute Zukunft zu haben. Das ist nicht so sicher wie mit einem festen Job.
In Vietnam versorgen Verwandte die Patienten
Ich studierte also den Beruf der Krankenschwester. Dann, im Covid-Sommer 2022, arbeitete ich im Krankenhaus, acht Stunden lang in einem Schutzanzug, fünf Wochen lang, freiwillig. Manche würden sagen, das ist zu hart, zu anstrengend. Für mich nicht. Es war manchmal sehr traurig, aber auch eine schöne Erinnerung. Die Unterschiede in der Pflege zu Deutschland: den Patientinnen und Patienten dabei helfen, aufzustehen, mit ihnen auf die Toilette zu gehen, das ist eigentlich die Aufgabe von Angehörigen in Vietnam. In Deutschland ist das die Aufgabe der Pflegerin.
STERN PAID 28_24 Pflege Kultur
Letztes Jahr bewarb ich mich bei dem Triple-Win-Programm. Und ich bekam die Zusage, was einem Lottogewinn gleicht. Denn viele träumen davon, und nur wenige schaffen es. Und ich wollte es unbedingt. Mein Studium wird nicht anerkannt, weil es sich bei dem Programm um eine Ausbildung handelt. Man muss mindestens ein Jahr Vorerfahrung in der Pflege nachweisen. Das durchschnittliche Einkommen in Vietnam liegt bei umgerechnet 257 Euro und hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel muss ich keine Steuern zahlen, und die Lebenshaltungskosten sind nicht so hoch wie in Deutschland. Von den 1340 Euro, die ich in Deutschland verdiene, muss ich für Versicherungen, Steuern, Miete und andere Lebenshaltungskosten aufkommen. Wenn etwas übrig bleibt, werde ich einen Teil nach Hause schicken.
Jetzt bin ich seit einem Jahr in Hanoi, das kann aufregend sein, aber auch einsam. Es fiel mir nicht schwer, mich einzuleben. Ich habe viele Freunde gefunden und wohne hier auf dem Campus im Studentenwohnheim. Mein Stiefbruder arbeitet in Hanoi als Mechatroniker. Manchmal treffen wir uns zum Kaffee trinken, wenn ich meine Familie vermisse. Aber wir haben beide nicht so viel Zeit. Es in Hanoi zu schaffen, ist wie ein erster Test, bevor es ins Ausland geht. Kommt man hier nicht zurecht, kann es schwer werden im 8200 Kilometer entfernten Cottbus.
In Deutschland ist der Kaffee schwächer
Eine Freundin aus meinem Krankenschwesterstudium in Vietnam ist bereits in Deutschland, in Hamburg. Sie erzählte mir, dass die Kolleginnen und Kollegen sehr freundlich und hilfsbereit sind. Dass Deutschland für hohe gesundheitliche Standards bekannt ist. Dass Deutsche auf Pünktlichkeit wert legen, der Zug aber manchmal ein bisschen zu spät kommt. Dass der Kaffee etwas schwächer ist als in Vietnam. Dass sie sich erst etwas einsam fühlte. Dass es so anders ist, die Kultur, die Sprache. Darauf werde ich mich einstellen müssen. Im Unterricht sprechen wir zwar auch über Deutschland, aber ich möchte mir unvoreingenommen selbst ein Bild machen und die deutsche Kultur intensiv kennenlernen.
Ich weiß noch nicht, wie es mir ergehen wird – auch mit meiner Familie, die ich in Vietnam zurücklassen werde. In der globalisierten Zeit kann man aber problemlos kommunizieren. Und wenn ich meine Patch-Work-Familie oder meine Oma zu sehr vermisse, so habe ich es mit meinem neuen deutschen Arbeitgeber ausgemacht, dann kann ich nach Vietnam fliegen und sie besuchen.
Ende Juli werde ich meinen Deutschkurs abgeschlossen haben. Ich werde ein letztes Mal in meine Heimat fahren, meine Oma besuchen, ihr Geschichten erzählen. Ich werde bei meinem Stiefvater arbeiten, der eine eigene Arztpraxis besitzt, den Patienten Infusionen legen. Ich werde meiner Mutter am Morgen in ihrem kleinen Lokal helfen, in dem sie Pho-Suppe serviert. Es wird anstrengend, aber ich möchte helfen. Einen Monat später, Ende Setember, werde ich am Flughafen Hanoi stehen. Ich werde in das Flugzeug steigen, Richtung Europa, nach Deutschland. Ich hoffe, dass alles gut wird.“