Früher wurde unser Kolumnist für seine Körperfülle verlacht. Aber heute, in Zeiten von Body Positivity, haben wir ja alle dazugelernt. Oder?
Gerade war ich noch für meine schulischen Leistungen gelobt worden, da versaute mir mein Bruder mit einer wohlgesetzten Pointe die Familienfeier in Ommas Wohnzimmer. „Mensch, Micky, du bist ja richtig fleißig“, hatte meine Tante gesagt. Mein Bruder knapp: „Na ja, wohl eher fleischig.“ Es war 1987, ich zehn Jahre alt und das, was man damals „mopsig“ nannte. Nicht unbedingt dick, aber ein bisschen zu sehr Nutellabroten, Chips und dazu drei Litern Milch am Tag zugetan.
Auf dem Knutschhügel nur Zuschauer
Man wird mir nicht angemerkt haben, wie sehr der gehässige Satz des Bruders schmerzte, aber hier griff die Rocky-Balboa-Weisheit, dass gute Beleidigungen ein Leben lang halten. Ich war nicht allzu glücklich damit, der unsportliche Junge zu sein, der noch in der Siebten bei der Klassenfahrt nach Goslar mit seinen zwei ebenfalls nicht übermäßig gefragten Kumpels Björn und Sascha anderen auf dem Knutschhügel zusehen musste, weil mehr nicht drin war. Wenigstens waren Sascha und Björn richtig dick – ein Trost, der selbst schon traurig ist. Ich beneidete sogar Mitschüler wie den komplett verpickelten Bastian, der mit seiner Kassenbrille zwar auch kein Hingucker war, aber dafür: schlank. Meine Mama meldete mich im Ruderverein und Tennisklub an, während mein Onkel mir zu Weihnachten lachend eine Tonne Chips schenkte, um ihre ambitionierten Pläne zu durchkreuzen.kurzbio beisenherz
Ach ja, diese Achtziger! Sie werden eher nicht als Hochzeit der Sprachsensibilität erinnert, und mein sechs Jahre älterer Bruder war schon gar nicht daran interessiert, Mamas Liebling besonders achtsam zu behandeln. Damals dachte schlichtweg niemand darüber nach, dass arglos hingeworfene Sätze wie „Hui, du hast aber stämmige Beine“ oder „Mit den dicken Armen besser nix Ärmelloses“ Mädchen über Jahre in die Essstörung treiben könnten. Und noch mehr glaubte man, Jungs und Männern würde die rücksichtslose Beurteilung ihrer Körper nichts ausmachen. Das ist falsch. Bis heute.
Ich musste jüngst miterleben, wie mein Freund Fabian, der vor Jahren noch einige Kilos leichter gewesen ist und sich mit viel Sport in diese Figur zurückzukämpfen versucht, für Fotos im Internet geschmäht wird. „Ganz schön breit geworden“ oder auch: „Weißer Ailton“. Vor Kurzem brüllte einer beim Fußball von der Seitenlinie rein: „Lass erst mal den Dicken schießen!“ Ich dachte, ich höre nicht richtig, Fabian seufzte nur: „Das ist mein Alltag.“ Als wir bei einer Veranstaltung backstage zusammensaßen, stieß ein Kumpel dazu, der, um die dräuende Stille zu überbrücken, als Mittel die musternde Bemerkung wählte: „Auch ganz schön zugenommen, was, Fabian?“
Zwischen Freibadpommes und Sport
Meinen Freund trifft das. So wie es mich damals getroffen hat. Als Vater einer Tochter erziehe ich selbst in dem pädagogischen Spannungsfeld, der Siebenjährigen einerseits die Freude an Süßigkeiten und Freibadpommes zu lassen und sie andererseits für – tja, wie soll ich es ausdrücken? – den Erhalt des sportlichen Körpers zu sensibilisieren. Gängige Drohkulissen der Achtziger wie „fett“, „speckig“ oder eben „fleischig“ kämen mir nie im Leben über die Lippen. Die richtige Chiffre ist indes stets: ungesund. Zumal sprachliche Abschreckung auch doppelt nach hinten losgehen kann.
Interview Kinderarzt Fitnessbarometer 06.18
Eine Freundin von mir wollte ihren ferreroaffinen Kindern zeigen, welche dramatischen Folgen Adipositas haben kann, und gab mahnend bei der Google-Bildersuche ein: dick. Wenn Sie des Englischen mächtig sind, dürfte Ihnen klar sein, welche Netzbeweise sie dem geschockten Nachwuchs da entgegenreckte.
Darauf erst mal eine heiße Tasse Kakao.