War’s das bald mit Joe Biden? Der Druck auf den US-Präsidenten wächst. Selbst enge Verbündete bezweifeln inzwischen, dass der 81-Jährige der Richtige für vier weitere Jahre im Weißen Haus ist. Und nun?
Joe Biden ist nicht erst seit gestern alt. Seit Langem schimmert Patina auf dem demokratischen Urgestein, das seit mehr als einem halben Jahrhundert Teil der Washingtoner Machtelite ist. Doch spätestens seit dem desaströsen TV-Duell gegen seinen theoretisch ähnlich greisen Herausforderer Donald Trump wirkt der US-Präsident wie der älteste Mensch des Planeten.
Und dann auch noch Butler. Trump überlebte in dem Kleinstädtchen in Pennsylvania nicht nur vor den Augen der Nation um Ohresbreite einen Mordanschlag, sondern inszenierte sich gleich an Ort und Stelle zum Helden. Eine Meisterleistung in Sachen PR.
Dabei ware die Demokraten schon vorher ob ihres offenbar tatterigen Kandidaten im Panikmodus. Wie geht es jetzt weiter mit dem guten, alten Joe? Hat er ein Einsehen?
Wie sehr hat das TV-Debakel Biden bislang geschadet?
Noch schlimmer anzuschauen als das TV-Duell Biden vs. Trump waren 90 Minuten zuletzt nur bei einem EM-Spiel der englischen Fußballnationalmannschaft. Gegen den im besten Fall stotternden, im schlimmsten Fall völlig verlorenen Biden wirkte Trump wie ein quietschfideler Pfadfinder auf Ritalinentzug. Das nationale und internationale Medienecho fiel dementsprechend verheerend aus. Auch die nackten Zahlen sprachen Bände. Einer gemeinsamen Umfrage der „New York Times“ (NYT) und des Siena College zufolge verlor Biden anschließend drei Prozent seiner registrierten Wähler an Trump – noch nie war der Abstand zwischen den beiden Kandidaten so groß.
Zunächst bemühten sich die Demokraten um Schadensbegrenzug, stellten sich demonstrativ hinter ihren Kandidaten. Die Reflexharmonie hielt nicht lange. Bereits wenige Tage nach dem Fiasko zweifelten die ersten Hinterbänkler, die Biden noch als „Bettnässer“ beschimpfen konnte. Inzwischen haben allerdings auch demokratische Schwergewichte, wie die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy und angeblich auch Vorgänger Barack Obama ihren einst engen Vertrauten Joe zum Rücktritt geraten.
Eine ausführliche Liste der Abtrünnigen finden Sie hier:
Sie wollen Joe Biden zum Rückzug bewegen 11.45
Mindestens genauso gefährlich wie ein Messer im Rücken wäre allerdings der Griff ins Portemonnaie. Wie die NYT berichtete, drohten die ersten Großspender nach dem TV-Debakel damit, Zahlungen einzustellen. Einflussreiche Gönner wie Netflix-Gründer Reed Hastings forderten Biden bereits vor dem Trump-Attentat öffentlich zum Rücktritt auf. Disney-Erbin Abigail E. Disney beteuerte in einer Mail, dass die Demokraten „keinen weiteren Cent von mir erhalten werden, bis sie in den sauren Apfel beißen“. Dabei stünde die teuerste Wahlkampfphase erst noch bevor.
Hat das Trump-Attentat die Wahl entschieden?
Das ist schwer zu sagen. Fest steht: Donald Trump hat die Situation perfekt genutzt. Ikonische Fotos unmittelbar vor Ort, christlich-versöhnliche Worte kurz darauf, dann die Apotheose auf dem Parteitag in Milwaukee. Die Geschichte zeigt, dass Kandidaten, die ein Attentat überlebten, einen massiven Beliebtheitsbonus bis an die Wahlurnen mitnehmen konnten. Und wenn jemand weiß, wie eine Welle zu reiten ist, dann die republikanische Lichtgestalt. Gegen den furchtlosen Widerstandskämpfer, als den sich Trump nun besser denn je verkauft, fallen Bidens Chancen jedenfalls weiter.
Wer hat noch Einfluss auf Biden?
Biden schien bislang überzeugt, dass er der Einzige ist, der die Trumpokalypse verhindern kann. „Nur Gott der Allmächtige“ könne ihn zum Rückzug bewegen. Oder vielleicht seine Frau? Tatsächlich dürfte vor allem Jill Biden den größten Einfluss auf den angeschlagenen Amtsinhaber haben. Abseits der Familie gehören auch Ex-Stabschef Ron Klain, Jurist Mike Donilon und sein langjähriger Berater Ted Kaufmann zum Klub der Präsidentenflüsterer. Als „Küchenkabinett“ bezeichnet die Nachrichtenwebsite „Axios“ den engsten Kreis.
Auf wen Biden jetzt noch hört, lesen Sie in unserer ausführlichen Fotostrecke:
Auf wen Biden jetzt noch hört 12.36
Könnte man Joe Biden zum Rücktritt zwingen?
Theoretisch ja, praktisch nein. Am einfachsten wäre es, träte Biden von sich aus beiseite. Direkt bestimmen könnte Biden seinen Nachfolger nicht. Stattdessen müsste er die knapp 3900 gesammelten Stimmen der Delegierten freigeben, die sich anschließend hinter einem beliebigen neuen Kandidaten versammeln dürften. „Open Convention“ nennt sich dieses Prozedere – eine absolute Seltenheit in der jüngeren US-Politik-Geschichte, die letzte gab es 1968. Sollte sich Biden trotz meuternder Partei weigern, das Steuer freiwillig aus der Hand zu geben, könnte es ihm niemand entreißen, ohne dem Nachfolger erheblich zu schaden.
Zwar sind die Delegierten, die bereits für Biden gestimmt haben, eigentlich angehalten, auch zu ihrem Wort stehen. Verpflichtet sind sie allerdings nur ihrem Gewissen. Kämen sie zum Schluss, dass Biden nicht mehr der beste Kandidat im Sinne ihrer Wähler ist, könnten sie ihn auf den letzten Metern fallen lassen. Dass sich dafür eine nötige Mehrheit findet, ist allerdings extrem unwahrscheinlich. Mal ganz abgesehen von den realpolitischen Folgen: Die Demokraten würden sich in innerparteilichen Grabenkämpfen zerfleischen. Das würde nicht nur Nerven, sondern vor allem Zeit kosten – und die wird jetzt zur wichtigsten Wahlkampfressource.
Bis wann müsste der Wechsel vollzogen sein?
Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten wird zwar erst auf dem Parteitag Mitte August in Chicago offiziell ernannt, soll aber bereits vorab virtuell benannt werden. Sollte der Noch-Präsident die Bombe wirklich erst dann platzen lassen, würde er einem neuen Kandidaten wertvolle Wochen rauben. Dabei ist die Aufgabe, die Parteibasis hinter sich zu bringen, vergraulte Wähler zurückzuholen und vor allem Unentschlossene zu gewinnen auch ohne tickende Uhr schwer genug.
Wirft Biden erst nach seiner offiziellen Ernennung das Handtuch, wäre auch das noch lange kein Freifahrtschein für Trump. Scheidet ein gewählter Kandidat oder sein Vize aus (oder stirbt), kann das Demokratische Nationalkomitee in Absprache mit der Kongressführung und dem Gouverneursverband einen neuen Kandidaten ernennen. PAID Trump-Rede Analyse 9.20
Warum ist Kamala Harris die logische Alternative?
Stand jetzt wäre jeder besser als Joe Biden. Wirklich jeder. Einer CNN-Erhebung zufolge glaubt nur noch einer von vier Wählern, dass der amtierende Präsident auch der geeignetste nächste Präsident wäre. 75 Prozent sind dafür, dass die Demokraten irgendjemand anderen aufstellen.
Wer dieser Mr. oder Mrs. Somebody sein könnte? Da stehen einige Namen im Raum: Gouverneure wie Gavin Newsom, Gretchen Whitmer oder JB Pritzker, Verkehrsminister Pete Buttigieg oder gar Ex-First Lady Michelle Obama (einen genaueren Blick auf die potenziellen Nachfolger finden Sie hier). Für alle gibt es gute Gründe, warum sie es nicht werden – zu unbekannt, zu „schmierig“ oder einfach kein Interesse.
Bliebe Kamala Harris. An die erste Vizepräsidentin der US-Geschichte wurden eine Menge Erwartungen gestellt – von denen sie bis jetzt nur wenige erfüllt hat. Auch fachlich werden der 59-Jährigen Defizite nachgesagt. Und ob sie als schwarze Frau die entscheidenden Wechselwähler überzeugen kann, ist mindestens fraglich. Trotzdem wäre sie die naheliegendste Biden-Erbin. Nicht nur, weil sie laut aktuellen Umfragen derzeit nur knapp hinter Trump läge. Harris wäre auch unter rein pragmatischen Gesichtspunkten die logische Alternative. Biden fiele es leichter, „seine“ Delegierten an seine Nummer Zwei zu verweisen, was den Demokraten einen lähmenden Machtkampf ersparen würde. Harris könnte außerdem auf Bidens üppige Wahlkampfkasse zurückgreifen – was bei anderen Kandidaten deutlich komplizierter wäre.
Wann fällt Biden eine Entscheidung?
US-Medienberichten könnte es bald soweit sein. Wie das Magazin „The Hill“ unter Berufung auf Parteikenner schreibt, werde Biden bereits in den kommenden Tagen eine endgültige Entscheidung fällen.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 5. Juli und wurde entsprechend aktualisiert.
Weitere Quellen: „New York Times„; „New Yorker„; „Politico„; AP; „Washington Post„; CNN