Erster öffentlicher Auftritt in neuer Rolle: Die frühere Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker will beim Verein Finanzwende weiter Finanzkriminalität bekämpfen – und legt sich dafür mit der Politik und Lobbyisten an.
Für ihre neue Rolle bei der Bürgerbewegung Finanzwende hat sich Anne Brorhilker einiges vorgenommen. Statt Finanzkriminalität anhand von Einzelfällen zu bekämpfen, wie sie es zuletzt als Cum-Ex-Chefermittlerin getan hat, will sie künftig „das Übel an der Wurzel packen“. Öffentlicher Druck soll die Politik bewegen, für mehr Transparenz bei Steuerskandalen zu sorgen und die Steuergelder zurückzuholen, die Banken massenhaft gestohlenen haben. Noch steht diesem Ziel eine mächtige Finanzlobby entgegen, deren Einfluss auf Justiz, Gesetzgebung und Verwaltung echte Aufklärung und Ermittlungen verhindert.
„Es geht hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um viele Milliarden“, sagte Brorhilker am Dienstag in ihrer neuen Rolle als Geschäftsführerin des Vereins Finanzwende. Auch im Kontext der Haushaltsdebatte sei es unverständlich, dass die illegalen Gewinne der Banken bislang vielfach nicht zurückgefordert werden. Stattdessen wolle die Ampel künftig Millionen bei Bürgergeld-Empfängern sparen, um das Haushaltsloch zu stopfen. „Daran merkt man, dass die Maßstäbe offensichtlich völlig schief geworden sind. Und hier wollen wir korrigieren“, so Brorhilker. Finanzkriminalität und Steuerhinterziehung im Milliardenbereich dürften nicht sanfter behandelt werden als Sozialhilfebetrug.
Cum-Cum: Größerer Schaden als Cum-Ex
Um wirksamer gegen Finanzkriminalität kämpfen zu können, hatte Brorhilker im Mai ihren Dienst als Oberstaatsanwältin niedergelegt. Bekannt wurde sie als wichtigste Ermittlerin im Cum-Ex-Skandal: jenen Aktiengeschäften, mit denen sich geschickte Investoren Steuern mehrfach zurückerstatten ließen – und den Staat so um mindestens zehn Milliarden prellten. Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelte unter Brorhilkers Führung in rund 120 Verfahren gegen 1700 Beschuldigte.
Künftig will Brorhilker bei der Nichtregierungsorganisation Finanzwende, deren Geschäftsführerin sie seit Juni ist, vor allem die Hintergründe des Cum-Cum-Skandals aufdecken, dem großen Bruder des Cum-Ex-Skandals. Nach konservativen Schätzungen sind dem Staat durch Cum-Cum-Geschäfte rund 28,5 Mrd. Euro entgangen – dreimal so viel wie der geschätzte Schaden aus Cum-Ex-Geschäften.
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Wie aber funktionieren solche Cum-Cum-Geschäfte? Cum ist lateinisch und bedeutet „mit“. Cum-Cum beschreibt im Börsensprech eine Aktie mit Anspruch auf Dividende. Wenn deutsche Aktiengesellschaften Dividenden ausschütten, müssen ihre Investoren aus dem In- und Ausland in Deutschland grundsätzlich Kapitalertragsteuer zahlen. Banken aus Deutschland allerdings können sich diese Steuer anschließend vom Finanzamt zurückholen.
Ausländische Großaktionäre verliehen darum gern ihre Aktien vor dem Dividendenstichtag an eine deutsche Bank und schickten sie in „dividend holidays“, einen Dividenden-Urlaub. Das deutsche Institut kassierte dann am Stichtag die Dividende, zahlte darauf 25 Prozent Kapitalertragsteuer – und ließ sich diese anschließend vom Fiskus zurückerstatten. Kurz nach dem Dividendenstichtag gab sie dem ausländischen Aktionär die Aktien dann zurück – mit fast der gesamten Dividende, denn die darauf eigentlich fällige Steuer hat sie ja erstattet bekommen. Mitgemischt haben bei diesen Konstrukten auch viele kleine Regionalbanken, darunter Sparkassen und Volksbanken.
Wenig Antworten, geschwärzte Papiere
2015 urteilte der Bundesfinanzhof, Deutschlands oberstes Finanzgericht, dass solche Cum-Cum-Geschäfte unzulässig sind. Trotzdem haben die Finanzbehörden bis heute nur einen Bruchteil davon zurückgeholt. Warum das so ist, versucht Finanzwende herauszufinden und stellte zunächst mehrere Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz an das Bundesfinanzministerium (BMF) sowie verschiedene Landesfinanzministerien. Konkret fragte die Bürgerbewegung nach mehreren BMF-Schreiben: Obwohl das Urteil des Bundesfinanzhofs einen klaren Kriterienkatalog vorgegeben hatte, wann Cum-Cum-Geschäfte illegal sind, verschickte das Bundesfinanzministerium 2016 und 2017 zwei verkomplizierende Schreiben, auf deren Grundlage Banken ihre illegalen Cum-Cum-Profite behalten konnten. Korrigiert wurde dies erst mit einem erneuten BMF-Schreiben im Jahr 2021.
Auf ihre Anfragen habe Finanzwende kaum Antworten bekommen. Teilweise seien abgestimmte pauschale Textbausteine übersandt worden, „die offensichtlich bei derartigen Anfragen immer verwendet werden“, so Brorhilker. „Uns wurde auch massenhaft Papier zugeschickt, das aber komplett geschwärzt war.“ Laut Finanzwende mauern die Behörden statt aufzuklären und ihrer Informationspflicht nachzukommen.
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Teils verwiesen die befragten Behörden sogar auf wirtschaftliche Interessen der Banken und mögliche Reputationsschäden, so Brorhilker: Für alle an diesen Geschäften möglicherweise Beteiligten drohe bei Bekanntwerden ihrer Beteiligung „ein nicht unerheblicher Imageschaden, der zudem wirtschaftliche Auswirkungen haben kann“, zitierte sie aus einem Ablehnungsbescheid aus Nordrhein-Westfalen zu einer Anfrage auf Akteneinsicht. „Da kann man offensichtlich den Eindruck gewinnen, dass die Finanzverwaltung den Banken an dieser Stelle immer noch nähersteht als den Bürgern“, so die ehemalige Oberstaatsanwältin weiter.
Mächtige Finanzlobby als Gegner
An dieser Stelle sei der Einfluss der Finanzlobby, vor allem der Banken, unübersehbar, sagte Brorhilker. Auf Ebene des Bundestages habe sie die größten Budgets, noch vor den Pharma- und Automobil-Lobbyisten. „Das ist eine große, sehr gut vernetzte Branche, die ein großes Interesse daran hat, effektive Kontrollen und Strafverfolgung zu verhindern, und die damit durchkommt”, so Brorhilker. Ein weiteres Problem sei, dass die Finanzlobby Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte verharmlose. Gleichzeitig würden diese Geschäfte gegenüber den Fachbehörden als äußerst kompliziert dargestellt. Mit massenhaft Papier und fürchterlich komplizierten Rechtsausführungen würden die Lobbyisten personell schlecht ausgestattete und überlastete Ämter überfordern.
Gegen die Ablehnungsbescheide, die die Bürgerbewegung Finanzwende auf ihre Anfragen von den Behörden erhalten hat, hat die Organisation mittlerweile Klagen eingereicht. Anne Brorhilker will Finanzkriminalität weiter bekämpfen und auf Missstände aufmerksam machen. Ihre neue Rolle bei Finanzwende sei ein Strategiewechsel. „Da ich nun keine Beamte mehr bin, kann ich jetzt vieles sagen, was ich als Staatsanwältin nicht sagen konnte“, so Brorhilker. „Meine Meinungsfreiheit wird nicht mehr weiter eingeschränkt.“