Was kommt zuerst: Die Nachricht oder der böse Witz über die Nachricht? Nach dem Attentat auf Donald Trump erlebt unsere Kolumnistin einen denkwürdigen Sonntagmorgen.
Man wacht auf, ein Blick aufs Handy: Trump wurde angeschossen. Handy zu. Für einen Moment denke ich, die Weltnachrichten lassen sich wegwischen. Doch schon texten erste Freunde über die Ereignisse in den USA. Ich gehe wieder ins Netz und versuche, mir selbst ein Bild zu machen.
Wie schwierig das ist, davon möchte ich in dieser Kolumne erzählen. Wie nach allen großen politischen Ereignissen, läuft in kürzester Zeit das Drehbuch der Hyper-Erregung ab. Es ist schwierig geworden, die Wirklichkeit zu erfassen, und noch schwieriger ist es, sich vor der Aggression in den Debatten in Schutz zu bringen.
Die meisten Menschen erfahren, wie ich es tat, solche Schocknachrichten über ihr Handy. Als ich auf X, wo es nach wie vor am schnellsten ist, mehr wissen will, finde ich jedoch nicht mehr Fakten über Trump, sondern zuerst die Empörung über El Hotzo, einen Autor mit knapp 700.000 Followern. Er hatte in einem Tweet geschrieben „ich finde es absolut fantastisch, wenn Faschisten sterben.“ El Hotzo löschte diesen Tweet später, vielleicht auch weil Wolfgang Kubicki ihn darauf hingewiesen hatte, dass die öffentliche Billigung von Straftaten strafbar sei. Der Tweet blieb trotz Löschung als Bildschirmfoto im Netz, die Empörungsspirale drehte sich.
Das blutende Ohr von Donald Trump
Ich möchte hier nicht über El Hotzo urteilen, sondern zeigen, wie sehr sich gerade bei solche Extremereignissen inzwischen der Diskurs von der Wirklichkeit entkoppelt hat. Auch andere reagieren an diesem Morgen im gewohnten Modus: Da geschieht das Unalltägliche, doch viele verarbeiten es wie ein Alltagsereignis. Das zeigt, wie sehr wir uns von der Wirklichkeit abschotten; alles darf sein in dieser Welt, solange man es in einen Meme verwandeln kann. Gegen das eigentliche Problem weiß man dagegen keine Lösung. Auch deshalb siegen zunehmend Faschisten, während andere kluge Köpfe munter an Memes arbeiten.
Der übliche Lagerkampf nimmt auch in Deutschland Fahrt auf. Nur wenige Stunden nach dem Attentat ist das Netz voll mit Verdrehungen, etwa einem Bild von Trumps blutendem Ohr, darüber eine Ketchup-Flasche, aus der rote Soße spritzt. Der Verfasser fragt schelmisch: „Zu früh?“ Wie viele fragen sich wohl, ab wann sie loslegen dürfen mit ihren Fantasien.
In der Menge starb ein Familienvater
Biden und Obama bleiben in diesem Tumult Staatsmänner, betonen, Gewalt sei kein legitimes Mittel im politischen Kampf. Gleichzeitig stellen sich einige Superreiche, untern ihnen Elon Musk, in den sozialen Netzwerken offensiv hinter Trump als künftigen Präsidenten. Inmitten aller Unklarheiten sollen politische Fakten geschaffen werden, während die Gerüchteküche zu brodeln beginnt: Wo waren die Sicherheitskräfte, wurde Trump gar nicht von der Kugel getroffen, sondern von Scherben des Teleprompters? Ein Video zeigt Sicherheitskräfte hinter der Bühne, wie sie zu früh in Deckung gehen – sein Absender liefert die passende Verschwörungstheorie dazu. Es wird gefragt, weshalb die Security-Leute Trump nicht sofort vom Tatort entfernt hätten, wie damals bei Reagan, sondern warum sie warteten, bis er mit seiner Siegerpose andeutet, er sei soeben ins Weiße Haus geschossen worden. Hat Trump sie dadurch in Gefahr gebracht?
Was bedeutet das Attentat für die Demokraten? 19.50
Die hypererregte Demokratie hat einen neuen Gipfel erreicht. Die Nachricht, dass ein Familienvater in der Menge starb, erhielt dabei erst einmal nur wenig Aufmerksamkeit. Sein Tod ist zu eindeutig und zu wahr, als dass er bei den Hyper-Erregten ankommen könnte.