Zynischer Ergebnisfußball, falsche Schiedsrichterpfiffe: Es war schwer, diese EM zu lieben. Umso schöner, dass Spaniens Titelgewinn für ein versöhnliches Ende sorgt.
Als Alvaro Morata den silbernen Pokal in den Berliner Nachthimmel stemmte, acht Kilo schwer und mehr als einen halben Meter groß, war dies der Moment, in dem dem Turnier Gerechtigkeit widerfuhr. Es war der Moment, der tilgte, was sich alles angestaut hatte in den zurückliegenden vier Wochen der Europameisterschaft.
Das Gefühl, dass der Fußball kein Herz hat, dass er die Falschen belohnt: Franzosen, die sich durch Elfmeter und Eigentore der Gegner bis ins Halbfinale gemogelt hatten. Engländer, auch sie reich an Talent, die sich nur aufs Zerstören verlegten und es sogar noch weiter schafften, ins Endspiel nämlich. Dazu die vielen fragwürdigen Schiedsrichterentscheidungen. Der Elfmeter für Deutschland gegen Dänemark, der keiner war. Das Handspiel von Marc Cucurella gegen Deutschland, der einer hätte sein müssen. Die Nachspielzeit der Partie England gegen Slowakei, die viel zu üppig ausgefallen war und erst endete, als Jude Bellingham den Ausgleich für England geschossen hatte.
Noch nie sind Fußballspiele so präzise vermessen, so aufwendig mit Sensoren abgetastet und von Künstlicher Intelligenz modelliert worden wie bei dieser Europameisterschaft. Und noch nie war das Störgefühl so groß, dass etwas faul ist im Staate Uefa.
Spaniens Morata im Goldschnipselregen
Und dann wird am Ende doch alles gut. Morata mit dem Pokal auf dem Podest, im Goldschnipselregen. Über ihm, wie eine blitzende Krone, die Funken des Feuerwerks. Es war dies die Feier des Siegs gegen England, 2:1 nach Toren von Nico Williams und Mikel Oyarzabal. Der erste Titelgewinn für Spanien seit 2012.
Es ist ein verdienter Titel, weil er nicht nur als Lohn für das gewonnene Finale verstanden werden darf, sondern auch als Auszeichnung für die besten Leistungen während der gesamten EM. Spaniens Triumph ist das Pflaster auf die tausend kleinen Wunden, die dieses Turnier gerissen hatte bei jedem, der den Fußball liebt.
Wen hatten die Spanier nicht alles geschlagen? Italien und Kroatien in der Gruppenphase, Deutschland im Viertelfinale, Frankreich im Semifinale. Alles große Namen, und Spanien war in jedem Spiel die bessere Mannschaft gewesen. Und natürlich war sie das auch am Sonntag gegen England.
In dieser Partie verdichtete sich noch einmal alles, was die spanische Mannschaft so unwiderstehlich gemacht hatte zuletzt. Allerdings benötigte sie mehr als eine Halbzeit, um zu gewohnter Klasse zu finden. Erst das Tor von Williams in der 47. Minute brachte die Kunst zurück in ihr Spiel. Es wirkte so, als müssten sich die Spanier selbst kurz daran erinnern, dass sie doch eine Offensivmannschaft sind: Dani Carvajal mit dem Außenrist auf Lamine Yamal; Yamal auf die andere Seite zu Williams – und der schiebt den Ball flach ein.
Die Jüngsten stehen für die neue Reife
Eine Szene wie ein Best-of-Clip des spanischen Spiels. Mit Yamal und Williams in den Hauptrollen, als aufregendste Flügelzange der EM. Zwei Hochbegabte, die das Turnier schon früh zu ihrem gemacht hatten, der eine gerade 17 Jahre alt, der andere 22.
Es ist eine schöne Pointe, dass ausgerechnet die beiden Jüngsten für die erstaunliche Reife des spanischen Fußballs stehen. Sportpsychologe darüber, wie wir verlieren 20.35
Dieser hat sich emanzipiert vom Tiki-Taka der Ära Xavi und Iniesta, jenem Kurzpass-Spiel, für das der FC Barcelona in den Nullerjahren weltweit bewundert wurde und das auch den Stil der Nationalmannschaft prägte. Zwischen 2006 und 2012 gewannen die Spanier drei Titel in vier Jahren, darunter die WM 2010. Danach jedoch wurde Tiki-Taka zum Inbegriff einer Spielkunst, die sich in manchen Momenten noch an sich selbst berauschen kann, aber wenig einbringt. Das Zeitalter der Gegenpressings hatte begonnen; ein schmuckloses, auf Effizienz getrimmtes System.
Spanien aber machte einfach weiter, es reiste als Zitat seiner selbst von Turnier zu Turnier. Was gestern richtig war, konnte doch nicht heute falsch sein?
Das Scheitern bei der WM 2002 als Wendepunkt
Doch, das war es. Bei der WM 2018 schied man bereits im Achtelfinale aus, ebenso bei der WM 2022, und erst das Scheitern in Katar sollte zum Wendepunkt werden. Trainer Luis Enrique wurde entlassen, auch er ein Prediger des Ballbesitz-Fußballs, mit Barca-Vergangenheit natürlich.
Es kam Luis de la Fuente, damals 61, der zuvor das spanische Olympiateam trainiert hatte und einige Junioren-Mannschaften. Keine große Trainervita, kein Pfau wie Enrique, ein nüchterner Mensch. De la Fuente ließ dem Nationalteam das Tika-Taka, aber er bereicherte es um ein druckvolles Flügelspiel und eine robuste Abwehr. Auch deshalb war Spanien für England so schwer zu greifen am Sonntagabend, es veränderte ja sein Spiel ständig. Mal Ballbesitzfußball durchs Zentrum, dann wieder Attacken über die Außenbahnen, gelegentlich Rückzug an den eigenen Strafraum – inklusive Bälle wegkloppen. Undenkbar noch vor wenigen Jahren, das spanische Spiel so zu entweihen.
Diese Momente blieben zum Glück selten im Finale. Spaniens Sieg war ein Sieg der Schönheit über den Minimalistenfußball der Engländer. Die Mannschaft um Kapitän Harry Kane wollten nichts beitragen zum Spiel, sie lauerte auf Ballverluste des Gegners, und erst als sie 0:1 zurücklag, wagte sie sich in die Offensive.
Ein Kollektiv, in dem der Einzelne leuchten darf
Spanien hingegen: Ein Kollektiv, in dem der Einzelne leuchten durfte. Kein Systemzwang wie bei den Engländern, kein Fußball-Sozialismus, der alle einnordet, selbst so große Könner wie Bellingham, Foden und Kane.
Die Niederlage Englands ist ein Gewinn für den Fußball. Dieses Modell wird nun nicht Schule machen, was bei einem Erfolg zu befürchten gewesen wäre. Die Branche macht es sich nämlich oftmals einfach. Es gilt die Regel: Wer gewinnt, hat recht. Und dann wird flugs alles umgedeutet: Spielerische Armut wird als Reduktion aufs Wesentliche interpretiert, glückliche Siege dienen als Beleg für Cleverness, und so weiter. Das Falsche wird zum Richtigen. Das war auch bei dieser EM zu beobachten, siehe Frankreich, siehe England.
Spanien hat dem Fußball nun einen anderen Weg gewiesen. Einen schönen, kunstvollen. Luis de la Fuente, wahrlich kein Mann des Überschwangs, schien zu spüren, dass ihm etwas Großes gelungen war – womöglich etwas Stilprägendes. „Viva España!“, rief er ins Mikrophon, als er seine Pressekonferenz weit nach Mitternacht beendet hatte.
Der spanische Fußball, er lebt wieder. Für den Sport ist das eine gute Nachricht.