Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik in Kraft. Seine Architekten wollten ein Bollwerk gegen zukünftige Diktaturen schaffen. Aber hält die Verfassung, die heute 75 Jahre alt wird, der Gegenwart stand?
Das Jahr 1949: Die Nazis sind besiegt, das Dritte Reich ist zerschlagen. Deutschland liegt buchstäblich und politisch in Trümmern. Die Besatzungsmächte müssen die Zukunft einer geschlagenen Nation planen, eine Richtung vorgeben, ohne gleich wieder Großmachtsfantasien zu wecken. Und so lassen sie Dokument verfassen, das eine weitere Diktatur verhindern und die neue Bundesrepublik begründen soll: das Grundgesetz.
Die Verfasser hatten selbst erlebt, wie die Weimarer Republik von innen heraus zerstört wurde und eine Demokratie in eine Diktatur gemündet hatte. Ihr Fokus lag deshalb darauf, eine robuste demokratische Grundordnung zu schaffen, um autoritäre Regime in Zukunft um jeden Preis zu verhindern. Am 23. Mai 1949 trat das erste deutsche Grundgesetz in Kraft, heute wird es 75 Jahre alt. Keine ganz kurze Zeit, gemessen an den Krisen, die seither über die Bundesrepublik hinweggegangen sind. Hält der Text der Gegenwart stand?
Grundgesetz gegen „Tag X“
Das Grundgesetz (GG) von 1949 entstand vor dem Hintergrund der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Eine solche Situation nennt die Extremismusforschung „Tag X“: Die Regierung eines Landes wird durch eine Revolution von innen oder eine totale Invasion von außen überrascht und gestürzt. Die Weimarer Republik war dagegen nicht gewappnet, ihre Verfassung hatte drei fundamentale Fehler: Artikel 25, 48 und 53.
Artikel 25 lautete: „Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen“. Zwischen 1930 und 1932 tat Reichspräsident Paul von Hindenburg dies drei Mal. Davon profitierte vor allem die NSDAP, die 1932 bei der Neuwahl 33,1 Prozent der Stimmen erhielt.
Artikel 48 lautete: „Der Reichspräsident kann (…) die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen“. Ein Befugnis, das betont vage formuliert war und äußerst umfangreich genutzt werden durfte. Der Reichspräsident konnte Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Dies schwächte das Parlament enorm.
Artikel 53 lautete: „Der Reichskanzler (…) wird vom Reichspräsidenten ernannt“. Dafür war keine parlamentarische Mehrheit nötig. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bedeutete faktisch das Ende der Weimarer Republik.
Aus diesen und anderen Schwächen der Weimarer Verfassung zog der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete, entsprechende Konsequenzen.
Grundgesetz ohne Notstandsklausel
Beim Inkrafttreten enthielt das Grundgesetz keine sogenannte Notstandsklausel, die es einer Regierung in Ausnahmesituationen wie Kriegen, Naturkatastrophen oder schweren wirtschaftlichen Krisen erlaubt hätte, bestimmte Grundrechte einzuschränken. Erst 1968 und nach langem politischen Ringen wurde eine solche Regelung nachträglich in das Grundgesetz eingefügt, als Artikel 115a bis 115l.
Bis heute regeln sie den Verteidigungsfall (bewaffneter Angriff auf Deutschland), den Spannungsfall (unmittelbar drohende Kriegsgefahr) und den inneren Notstand (besonders schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung). Außerdem bestimmen sie, welche weitreichenden Maßnahmen die Bundesregierung in diesen Fällen ergreifen kann.
Die Notstandsgesetze sind immer noch umstritten, wurden aber noch nie angewandt. Ihre Aktivierung unterliegt strengen Voraussetzungen und wird sowohl durch das Parlament als auch das Bundesverfassungsgericht kontrolliert.
Mit Netz und doppeltem Boden
Die Ewigkeitsklausel (Artikel 79 Absatz 3) wiederum ist integraler Bestandteil des Grundgesetzes. Sie besagt, dass Änderungen unzulässig sind, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden. Die Klausel beugt einem Anfassen dieser grundlegenden Verfassungsprinzipien vor, selbst wenn es dafür eine parlamentarische Mehrheit gäbe.
Bis auf die Prinzipien, die durch die Ewigkeitsklausel geschützt sind, kann das Grundgesetz zwar angepasst werden, gemäß Artikeln 79 Absatz 1 und 2. Jedoch nur, wenn zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages und zwei Drittel des Bundesrates zustimmen. Schnelle oder grundlegende Änderungen sind deshalb äußerst schwierig umzusetzen.
Ein weiterer wichtiger Grundsatz ist die Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat demnach die Rolle eines Schiedsrichters inne. Es soll sicherstellen, dass alle Entscheidungen der Spieler (Gesetze) im Einklang mit den Grundregeln des Spiels (Verfassung) stehen. Wenn das nicht der Fall ist, kann das Gericht eingreifen und ein Gesetz für ungültig erklären. Es ist auch befugt, Parteien zu verbieten, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen.
Schwäche der Kontrollinstanz
Und doch ist der Punkt, dass das Verfassungsgericht als Schiedsrichter über das Grundgesetz wacht, zugleich auch die größte Schwäche unserer Verfassung. Eine Reihe von Regelungen für das Gericht kann man derzeit mit einfacher Bundestagsmehrheit ändern. Sowohl in Polen als auch in den USA wurden die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der obersten Gerichte auf diese Weise untergraben.
Ist das Bundesverfassungsgericht einmal lahmgelegt, wären nur noch wenige Hindernisse zu überwinden, um die Verfassungsordnung durch ein einfaches parlamentarisches Mehrheitsvotum umzugestalten. Gesetze wie das Bundeswahlgesetz, das Parteiengesetz oder die Geschäftsordnung des Bundestages könnten alle mit einfacher Mehrheit geändert werden.
Dies würde es einer Parlamentsmehrheit ermöglichen, das Wahlsystem, die Parteienfinanzierung und die Rechte der Opposition zu kontrollieren. Diese Kontrolle könnte genutzt werden, um politische Konkurrenten zu schwächen oder zu spalten, ähnlich wie es in Ländern wie Polen und Ungarn geschehen ist.
Regierung und Opposition wollen das Bundesverfassungsgericht deshalb besser vor möglichen Entmachtungsversuchen vor allem durch extreme Parteien schützen, ein erster Gesetzentwurf dazu liegt bereits vor. Demnach sollen entsprechende Regelungen in das Grundgesetz aufgenommen werden.