Am Rande des Nato-Gipfels, tausende Kilometer von zu Hause entfernt, zieht sich Annalena Baerbock urplötzlich aus dem Kanzlerkandidaten-Rennen der Grünen zurück. Was soll dieses Manöver?
Mittwochnachmittag, irgendwo im südlichen Teil des verschachtelten Kongresszentrums in Washington: In einem kleinen Konferenzraum trifft Annalena Baerbock auf Antony Blinken, die deutsche Außenministerin also auf ihren US-Kollegen.
Fahnen hängen im Konferenzraum. Vertraute sitzen mit am Tisch. Zwei Minuten darf man den beiden bei ihrer Begrüßung zuschauen, bevor sie sich zu einem Gespräch zurückziehen. Baerbock dankt ihrem „Kollegen und Freund“ für die „amerikanische Führung“ in den vergangenen Jahren und sagt noch: „Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zukunft.“ Dann schließen sich die Türen. Die Operation Weltfrieden ruft.
Gerade einmal zwei Stunden ist es her, dass Annalena Baerbock diesem eigentlich nicht sehr aufregenden Nato-Gipfel eine bemerkenswerte Wendung gab, jedenfalls wenn man die deutsche Brille aufsetzt.
Ausgerechnet hier in DC, wo es eigentlich um die Frage gehen soll, wie die Ukraine gerettet werden kann und man Wladimir Putin in die Knie zwingen kann, sagt Baerbock gegen Mittag im US-Fernsehen etwas zu ihren persönlichen Karriereplänen. Sie strebe keine erneute Kanzlerkandidatur an, sagt sie. In diesen Zeiten sei Diplomatie gefragt, und beide Aufgaben könne man nicht vereinen. Was schon deshalb eine kuriose Sicht ist, weil nach dieser Logik der Kanzler erst recht zu beschäftigt sein müsste, um Wahlkampf zu machen.
Annalena Baerbock und ihr ungewöhnliches Manöver
Auch ansonsten ist das Manöver, das Baerbock in DC fährt, gelinde gesagt eher ungewöhnlich. Der Stil ist seltsam, der Zeitpunk sowieso. In wichtigen Personalfragen gibt es in Parteien ein ungeschriebenes Gesetz, wonach die Mitglieder die Klärung zuerst erfahren, sei es im größeren Rahmen einer Parteiveranstaltung oder in einem kleineren im eigenen Kreisverband. Ausgerechnet Baerbock, die gern als Liebling der Basis beschrieben wird, geht einen anderen Weg, schaltet sich mit Reporter-Legende Christiane Amanpour auf CNN zusammen, um ihre Kanzlerträume zu beenden. Als habe die Welt darauf gewartet, wie sie ihre Zukunft sieht. Oder als wolle sie Joe Biden zeigen, wie man das macht mit dem Verzicht.
Ist das cool? Eine Eigen-PR, die reichlich drüber ist? Oder ein Sinnbild dafür, wie sehr die Grünen die Bodenhaftung verloren haben?
Jedenfalls frisst sich die Nachricht auch deshalb rasch durchs Kongresszentrum, durch die Nachrichtenagenturen und deutsche Medien, weil sie jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt kaum jemand erwartet hatte. Die K-Frage interessierte bei den Grünen zuletzt eigentlich niemanden.
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Robert Habeck schien zuletzt zwar einen gewissen Vorteil zu haben, was die Spitzenkandidatur angeht, weil Baerbock sie schon einmal hatte. Aber weil die Partei in Umfragen gerade auf einem Niveau liegt, bei dem ans Kanzleramt eigentlich nicht zu denken ist, versuchten die Grünen, das Thema eher zu meiden, aufzuschieben. Jetzt ist das Thema auf einmal wieder da, und Habeck müsste auf die Kandidatur nun zugreifen können. Nur kann man nach diesem Mittwoch seine Zweifel haben, wie sortiert die Grünen wirklich sind.
Kündigte sie ihren Schritt vorab an – oder nicht?
Baerbock habe ihren Schritt intern angekündigt, versichern sie jetzt bei den Grünen. Und übrigens sei er auch klug, denn womöglich würde der Partei jetzt ein quälender Prozess über die Nummer eins erspart. Allerdings schien selbst der Vizekanzler eher überrumpelt, als er kurz nach dem Interview am Rande seiner Sommerreise auf Baerbocks Äußerungen angesprochen wurde. Sie sei eine sehr gute Außenministerin, sagte Habeck, um gleich eine kleine Spitze hinterherzuschieben: „Dass sie in Berlin, äh, USA, Statements gibt, zeigt wie tief sie in der Außenpolitik verankert ist und unterwegs ist.“ Er hätte auch sagen können: Sie ist halt gerade sehr weit weg von allem.
Wie es jetzt in Sachen Kanzlerkandidatur weitergehe, entscheide man in den Gremien, sagte Habeck. Was aber die Frage nach sich zieht, warum dann nicht direkt jetzt alles klar ist, wenn Baerbocks Manöver doch angeblich vorher bekannt war?
Olaf Scholz, der mit Baerbock gemeinsam nach Washington reiste, dürfte ebenfalls überrascht worden sein von ihrer Festlegung. Nun gehört für ihn die Frage, wie die Grünen ihre Spitzenkandidatur klären, nicht zu den allerhöchsten Prioritäten, aber so ganz angenehm ist es für ihn nicht, dass die Nachricht während eines Gipfels die Runde machte, der doch weniger auf Baerbock zugeschnitten sein sollte als auf ihn, auf seinen Kurs im Ukraine-Krieg, seine Freundschaft mit Joe Biden. Auf deutsche Führung in weltpolitisch unruhigen Zeiten – das war die Geschichte, die seine Leute gern erzählt hätten. Und jetzt geht es auf einmal nur um die grüne Ministerin und ihre Zukunft.
Der Nato-Gipfel verläuft eher unspektakulär – gut so
Aber etwas sonderbar ist dieser Jubiläums-Gipfel, auf dem die Nato ihr 75-jähriges Bestehen feiert, ja ohnehin. Vielleicht muss man sich einmal kurz in die hinteren Bereiche des Kongresszentrums begeben, um zu erleben, wie gemütlich das alles abläuft bei diesem Gipfel.
Es ist Mittwochmittag, die Mächtigen treffen sich zur ersten Arbeitssitzung und die Regeln wollen es so, dass zuvor jede Chefin und jeder Chef eines Nato-Lands nochmal ein paar Sätze in die Kameras sagen darf. Aber viele wollen gar nicht. Sie verschwinden. Trinken mit Kollegen einen Kaffee. Tauchen vor den Mikrofonen gar nicht erst auf.
Olaf Scholz zum Beispiel schlurft mit einem Vertrauten langsam eine rote Treppe herunter und biegt dann rasch in einen Nebenraum ab. Emmanuel Macron fährt gemächlich die Rolltreppe hinauf, obwohl die Arbeitssitzung eigentlich unten stattfindet. Joe Biden steht gleich ganz woanders, um jeden seiner Nato-Kollegen persönlich zu begrüßen. Ein Lächeln, ein Foto für das Familienalbum, dann kann es losgehen mit der Arbeitssitzung, obwohl das gemeinsame Papier ja eigentlich längst steht. Der Feind sitzt in Moskau, der Freund in Kiew, das ist der Kern der Erklärung.
Die Botschaft sitzt, der Zeitplan wird eingehalten, nicht einmal Biden fällt um. Jenseits von Baerbocks kleinem Schocker ist dieser Gipfel eher unspektakulär.
Was in diesen Zeiten aber vielleicht auch mal eine ganz gute Nachricht ist.