Protestformen hat die Klimabewegung schon einige ausprobiert. Gefruchtet hat zuletzt nichts mehr so richtig. Eine kleine Gruppe setzt nun erneut bei einem Hungerstreik ihr Leben aufs Spiel – und hofft, weiter zu kommen als die Letzte Generation.
Treppen zu steigen fällt Richard Cluse deutlich schwerer als vielen anderen Männern in seinem Alter. Wenn ihn die Kraft verlässt, dann muss sich der 56-Jährige oft hinsetzen und etwas trinken. Ein paar Vitamintabletten, Frucht- und Gemüsesäfte halten ihn seit Wochen am Leben. Fast 60 Tage ist es her, dass er gegessen hat, erzählt Cluse dem stern. Seit Ende März hungert er freiwillig im Namen des Klimas, „damit der Kanzler endlich anerkennt, dass die hohen CO2-Emissionen die Menschheit gefährden“.
Nach Protestmärschen, Klebeaktionen und Straßenblockaden erfährt der Hungerstreik in Berlin gerade ein Revival. Ende März schlugen mehrere Aktivisten im Berliner Spreebogenpark ihre Zelte auf und verweigern seitdem jegliche Mahlzeiten. Zwischendurch musste die Gruppe umziehen, weil das Bild der hungernden Menschen die Fan-Meile zur Fußball-EM stören würde. Jetzt campieren sie im Invalidenpark direkt vor dem Wirtschafts- und Klimaschutzministerium von Robert Habeck. Thematisch zwar passender, allerdings gehört der Vizekanzler nicht zur Zielgruppe. „Olaf Scholz soll die Wahrheit zur Klimakatastrophe ehrlich aussprechen“, fordern Cluse und seine Mitstreiter. Kein neues Gesetz, kein Ende der Kohlekraft, nur ein klares Bekenntnis, eine „ehrliche Kommunikation“ in der Klimakrise, wollen sie vom Kanzler hören.PAID Wissenschaftler und Klimaaktivisten – geht das? 08.17
Kann ein Hungerstreik den selbst ernannten Klima-Kanzler überzeugen?
Vor drei Jahren gelang das zumindest einer Gruppe junger Aktivisten, die ebenfalls im Spreebogenpark für ein Gespräch mit den damaligen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, Annalena Bearbock und Armin Laschet hungerten. Nach 27 Tagen war das Ziel erreicht, der Streik beendet.
Heute hungern die Aktivisten schon mehr als doppelt so lang, ohne dass das Kanzleramt auch nur die Bereitschaft zeigt, die Forderungen ernst zu nehmen. Das ärgert Cluse. Scholz hat immerhin einen Amtseid geschworen, wonach er die Bürger vor Schaden bewahren und die Lebensgrundlage schützen muss, so steht es in der Verfassung. „Das wird sträflich vernachlässigt. Das wissen und sagen alle, nur der Kanzler tut es nicht“, kritisiert Cluse.
Ein Klimaaktivist der Kampagne „Hungern bis ihr ehrlich seid“ steht neben einer Tafel, an der die Mitstreiter ihre Fastentage zählen
© Carsten Koall
Vom Ingenieur zum Vollzeit-Aktivisten
Trotzdem ist der Aktivist überzeugt, dass sein Hungerstreik irgendwann erfolgreich sein wird. Dass er dabei sein Leben aufs Spiel setzt, nimmt er genau so in Kauf, wie seine Mitstreiter. Zwei von ihnen werden bereits in Krankenhäusern behandelt. „Ich mache das nicht, weil es mir Spaß macht“, stellt er klar. Dass jederzeit jemand im Camp zusammenbrechen kann, ist den Aktivisten klar. Ebenso wie die Tatsache, dass ihre Gesundheit nach einem Kollaps und einem Krankenhausaufenthalt dauerhaft geschädigt sein oder sogar ein Mitstreiter sterben könnte.
Dass sich Menschen dieser Gefahr ausliefern, spricht für eine tiefe Verzweiflung. Am Telefon klingt Cluse zwar nicht so. Dafür spricht seine Geschichte Bände. Bis vor einem halben Jahr beriet er als Ingenieur große wie kleine Konzerne beim Energiesparen. Darunter auch führende deutsche Pharma-, Auto- und Stahlfirmen, erzählt er. „Das hat sich erst einmal gut angefühlt.“ Doch dann wurde ihm klar: Meist bleibt es nur bei Konzepten, umgesetzt werden die Pläne selten. „Viele Unternehmen kamen auch nur zu uns, weil sie wissen wollten, wie viel es kostet, CO2-neutral zu werden. Am Ende scheuen viele die Transformation, weil sie dafür mehr Leute benötigen und die Betriebskosten erst einmal steigen“, berichtet Cluse. Auch der politische Antrieb fehle, kritisiert er.STERN PAID Klimakleber Familien 1235
Nebenbei war Cluse deshalb mit Extinction Rebellion unterwegs, klebte sich später auch für die Letzte Generation auf die Straße. Wegen einer Blockadeaktion verbrachte er einmal sechs Tage im Gefängnis. Als er freikam, hängte er seinen Job endgültig an den Nagel.
Auch von der Letzten Generation hat er sich mittlerweile getrennt und stattdessen mit einem gleichgesinnten Mitstreiter die Kampagne „Hungern bis ihr ehrlich seid“ organisiert, „weil wir gesehen haben, dass wir mit der Letzten Generation nicht mehr weiterkommen“. Deren Forderungen hält Cluse zwar immer noch für vernünftig, „aber mit Straßenblockaden lassen sie sich nicht umsetzen“.
Klimaaktivist optimistisch: „Gehe davon aus, dass Forderung erfüllt wird“
Nun also der Hungerstreik im Regierungsviertel. Tagsüber sprechen die Aktivisten mit Parlamentariern, die kurz vorbeischauen. Meist seien es Grünen- oder linke Politiker. Ein paar Aktivisten studieren nebenbei, andere reisen durch Deutschland, unter anderem für Gerichtsprozesse wegen früherer Blockadeaktionen. Das zehrt an den Kräften. Hungergefühle kennt Cluse nach über 50 Tagen in dem Camp im Invalidenpark kaum noch. Nach ungefähr zwei Wochen habe sich der Körper an die Mangelernährung gewöhnt.
Immer ein Getränk in der Hand: Richard Cluse während einer Pressekonferenz Anfang April im Hungercamp im Spreebogenpark
© Christian Ditsch
Auf den Protest reagieren die Menschen sehr unterschiedlich, berichtet Cluse. Zu seinen beiden erwachsenen Kindern habe er zwar „ein gutes Verhältnis, aber der Klimastreik ist ein schwieriges Thema“. Aktivisten sprächen ihren Respekt aus, andere Campbesucher versuchten den Hungerstreik komplett zu ignorieren, auch weil das Thema am Tod kratzt. „Und damit kommen viele Leute nicht so gut klar“, vermutet der Aktivist.
Dass er selbst stirbt, daran glaubt er aber nicht. Mit in Wasser aufgelösten Brausetabletten, Frucht- und Tomatensäften ernähren die sich sechs Aktivisten gerade so, dass es zum Leben reicht. Ärzte, Pfleger und Sanitäter sehen ehrenamtlich regelmäßig nach den Hungernden, messen Blutzucker, Blutdruck, beobachten den Gewichtsverlust. Jeder Wert wird dokumentiert.
„Ich gehe davon aus, dass unsere Forderung erfüllt wird, wir die Kampagne beenden können und ich weiterlebe“, sagt Cluse optimistisch. Wie lange die Kampagne noch dauern wird? Möglicherweise mehrere Wochen, vielleicht ein paar wenige Monate noch, so genau kann er es auch nicht sagen. Essen will Cluse aber erst, wenn der Kanzler auf die Forderungen der Aktivisten eingeht. „Er muss anerkennen, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zu hoch ist, dadurch die Menschheit gefährdet wird und wir umsteuern müssen“, fasst Cluse die Forderungen knapp zusammen; Kompromisse ausgeschlossen. „Erst wenn der Kanzler das tut, werden unser Hungerstreik und die Kampagne beendet.“
Danach will Cluse auch langsam wieder essen. Worauf er sich am meisten freut? „Auf ein gut gewürztes Kaffee-Gebäck.“