In Washington treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zum Nato-Gipfel. Doch Feier-Stimmung will nicht aufkommen. Statt Einigkeit und Entschlossenheit regieren im Bündnis Zwist und Zweifel. Da hilft nur: Nerven bewahren.
Es soll ein strahlender runder Geburtstag werden, frei nach dem Motto: 75 Jahre alt, aber kein bisschen müde. Doch wenn sich die Regierungschefs der 32 Mitgliedsstaaten der Nato-Familie ab heute drei Tage lang im Washingtoner Walter E. Wilson Convention Center zur großen Jubiläums-Party einfinden, dann könnte es laufen wie so oft bei Feiern unter Verwandten: Die stolzen Festreden übertönen nur notdürftig den Zwist innerhalb der Sippschaft; trotz sichtbarer Anstrengungen der Gastgeber merken alle, dass früher mehr Lametta war; zu vorgerückter Stunde wird der angeheiratete Schwager ausfällig und verdirbt die Fete vollends.
Einer, der das Schlamassel schon lange kommen gesehen und bereits im Vorfeld versucht hat gegenzusteuern, ist Jens Stoltenberg, scheidender Nato-Generalsekretär und so etwas wie der Master of Celebrations in Washington.
Jens Stoltenbergs Kampf um Geschlossenheit vor Nato-Gipfel
Damit das Nato-Familienfoto in Washington zumindest einen Schimmer von Entschlossenheit und Stärke ausstrahlen kann, hat der Norweger wochenlang die Allianz-Mitglieder bekniet, der zusehends verzweifelt kämpfenden Ukraine zu erlauben, westliche Waffen auch direkt gegen russisches Territorium einzusetzen. Mit Erfolg. Am Ende haben sogar die vorsichtige US-Regierung und Berlin eingelenkt.
Versteinerter Blick: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bemüht sich, im Vorfeld des Gipfeltreffens zum 75. Nato-Geburstags in Washington Singale der Geschlossenheit und Stärke zu senden. Mit mäßigem Erfolg.
© Lukas Kabon/Anadolu via Getty Images
Beim Nato-Außenminister-Treffen in Prag Ende Mai zündete Stoltenberg die nächste Stufe: Die Nato-Staaten sollen ihre Hilfszusagen an Kiew verdoppeln, auf 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr, oder mindestens 0,08 Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts. Ein Signal an Wladimir Putin soll das sein, pünktlich zum Geburtstagsgipfel: Mach Dir keine Hoffnungen, einen Abnutzungskrieg gewinnen zu können. Stoltenbergs Initiative nimmt vor allem die Nato-Länder in die Pflicht, die bisher wenig Hilfe geleistet haben. Deutschlands Unterstützung an die Ukraine liegt schon jetzt oberhalb dieser Grenze.
Trotz allem: Die Stimmung in Washington droht durchwachsen zu werden.
Zwar hat der Beitritt Schwedens und Finnlands hat die Allianz gestärkt. Zwar hat das Bündnis mit dem Niederländer Mark Rutte einen neuen Generalsekretär gekürt, der selbst im Umgang mit Donald Trump als geschmeidig gilt. Und Russlands Angriffe auf Kinderkrankenhäuser in Kiew führen unmittelbar zum Gipfelauftakt allen vor Augen, wie bitter nötig das Bündnis weiter ist. (Allerdings auch: Wie groß die Lücken sind, zum Beispiel bei der Luftverteidigung entlang er Nato-Ostflanke, nach 30 Jahren, in denen Verteidigungsfähigkeit scheinbar keine Rolle mehr spielte.)
Soll die Ukraine in die Nato? Und wenn ja: Wann?
All das aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Washingtoner Festmenü ein entscheidender Gang fehlt: Eine Zusage samt Zeitplan für einen Nato-Beitritt der Ukraine. Die ost- und nordeuropäischen Mitgliedsstaaten mögen mit Unterstützung aus Paris noch so sehr dafür trommeln, für die USA und Deutschland ist der Nato-Beitritt zu Kriegszeiten weiter ein No-Go.
Stattdessen soll es in Washington eine „neue Sprachregelung“ zu „Kiews Mitgliedschafts-Aspirationen“ geben, wie Julianne Smith, Nato-Botschafterin der USA kürzlich in einem Presse-Briefing betonte. Als Teil eines Hilfs-Pakets, das Kiew bittschön als „Brücke zur Mitgliedschaft“ verstehen möge. „Diese Brücke wird aus Stahl sein und gut beleuchtet, und wir werden alles dafür tun, unseren ukrainischen Freunden zu helfen, sie zu überqueren – Schritt für Schritt“, so die US-Nato-Botschafterin. Als wichtigster Brückenpfeiler gilt das bilaterale Sicherheitsabkommen, das US-Präsident Joe Biden und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj Mitte Juni beim G7-Gipfel in Apulien unterzeichnet haben. Davor war das Verhältnis der beiden Präsidenten untereinander auf einem Tiefpunkt angekommen. „Wir sind weiter voneinander entfernt als jemals seit Kriegsbeginn“, klagte ein Selenskyj-Vertrauter noch im Mai der „Financial Times“.
UkraineInterviewKendallTaylor 15:30
Als würde all das noch nicht als Stimmungskiller reichen, wirft die seit Wochen schwelende Debatte um Joe Bidens körperliche und mentale Eignung, das eigene Land noch zu führen, einen weiteren Schatten auf die strahlende Feier zum 75. Gründungsjubiläum der Nato. Derweil eskaliert Putin seine Angriffe und der Premierminister des Nato-Mitgliedslandes Ungarn fliegt als Pendel-Propagandist um die Welt.
Statt der Stimmung steigt zur runden Nato-Jubliäumsfeier der Druck.
Manche erinnert die Lage an das 25. Nato-Jubiläum im Sommer 1974. Damals hieß der Gastgeber Richard Nixon – und steckte mitten im Amtsenthebungsverfahren wegen des Watergate-Skandals. Amerikas Verlässlichkeit als Führungsmacht im Bündnis stand infrage. In Europa ging die Angst um.
Viel wird davon abhängen, ob die Jubiläums-Gäste diesmal die Nerven behalten. So wie damals.
Nixon, übrigens, trat zwei Monate später zurück.