Angela Merkel – das sind wir irgendwie alle. Die Deutschen sind mit ihr aufgewachsen oder alt geworden. Jetzt wird sie 70. Die ARD zeigt ihre und unsere Reise durch das vereinigte Vaterland in einer Doku.
Über den Untertitel der Serie kann Angela Merkel bestimmt herzlich lachen: „Schicksalsjahre einer Kanzlerin.“ Klingt wie der Sissi-Schmachtfetzen „Schicksalsjahre einer Kaiserin“ aus den 50er Jahren. Nur dass statt des liebestollen Grafen Andrássy eher machtorientierte Typen wie Roland Koch in dem ARD-Fünfteiler von Tim Evers in der Kulisse warten. Den hessischen CDU-Mann nennt Merkel im Film übrigens „Kotzkoch“, was natürlich ein bedauerlicher Versprecher ist. Oder doch nicht? Wir erfahren es nicht. Auch sonst gibt es wenig neue Erkenntnisse über die Langzeitkanzlerin, die am 17. Juli 70 Jahre alt wird.
Aber das macht nichts.
Die Zeitreise durch mehr als drei Jahrzehnte ist auch so toll: Es geht los mit Bildern aus der DDR, aus dem Wendeherbst, Helmut Kohl erobert fünf neue Bundesländer. In Washington posiert er beim älteren Bush mit seiner „jüngsten Ministerin“ Angela Merkel – ein wenig erinnert die Gockelei an ein pfälzisches Weinfest. Das Ostgewächs hat noch nicht ganz die optimale Reife, aber es ist ein Versprechen für die Zukunft. So kam es dann ja auch.
Angela Merkel zu unterschätzen, erweist sich als sehr gefährlich
Die Jahre rauschen in der Serie nur so vorbei. Es treten üble Machos auf, die sich heute – keine Generation später – mit der ersten Silbe als Dinosaurier entlarven: Gerhard Schröder pöbelt im Fernsehstudio gegen die Wahl Merkels zur Kanzlerin („Die Kirche im Dorf lassen“); ein noch ziemlich jungenhafter Edmund Stoiber lässt wissen, was seine Töchter über Merkel meinen: nämlich, dass sie ihre Attraktivität noch zu wenig fördert.
Habeck lobt Merkels «Normalität in Perfektion» 15.33
Nicht nur wegen dieser Art von Widerstand und Missachtung war Merkel eine Pionierin. Frau, ostdeutsch, evangelisch, geschieden – und dann die ganz große Karriere ausgerechnet in der CDU. 16 Jahre Kanzlerin. Davor kann man sich nur verneigen; egal, was es sonst noch zu sagen gibt. Die Einwände gegen Merkel sind mittlerweile ziemlich stereotyp. In der Reihe – die sich einfügt in eine lange Reihe von Merkel-Dokumentationen – kommen sie insbesondere von Menschen, die in den 80er Jahren geboren wurden und mit der Dauer- Regierungschefin groß geworden sind. Manche sagen banale Sachen, wie der YouTuber Lefloid, der ein Defizit an Charisma erkannt hat. Andere aber auch Erhellendes, wie die Autorin Samira El Ouassil, die Merkels Weg aus der DDR in die Bundesrepublik als eine Art Migrationsgeschichte begreift, die die Empathie der Kanzlerin für Menschen erklärt, die keine biodeutschen Omas und Opas haben.
Merkel mit ihren einstigen Rivalen Friedrich Merz und Edmund Stoiber
Evers hat die Interviews der Kinder der Merkel-Jahre gemischt mit Aussagen von Weggefährten wie Thomas de Maizière oder Annegret Kramp-Karrenbauer. „Das eröffnet uns erhellende Perspektiven“, meint Evers. Zumindest ist alles gutes Handwerk. Herausragend ist der Umgang mit den Bildern. Die vervielfältigen sich plötzlich oder überraschen mit Szenen, die im Archiv nicht gleich obenauf gelegen haben dürften. Als Merkel und ihr Vize Guido Westerwelle nach der Katastrophe von Fukushima die Kehrtwende in der Atompolitik verkünden, lassen die Filmemacher die beiden rückwärts laufen. Sie haben Ideen und trauen sich was.
Von Vorpommern bis ins Weiße Haus in Washington
Der Film – ob als Streaming-Serie in der ARD-Mediathek oder auf Spielfilmlänge gestutzt im ARD-Abendprogramm – zeigt alle Arten und Unterarten des politischen Menschen. Man sieht den kauzigen Landrat in Mecklenburg-Vorpommern, der Merkel half, ihr erstes Bundestagsmandat zu gewinnen. Oder die breitbeinigen Politprofis aus der West-CDU, die „Kohls Mädchen“ für ein Leichtgewicht hielten, bis sie von ihr abgeräumt wurden.
Alles ist sehr anders als heute. Was auch eine Aussage darüber ist, ob die Merkel-Jahre nun wirklich eine Zeit des Stillstands waren. Klar hätte sie mehr gestalten können statt nur unmittelbares Unheil abzuwenden; mehr tun können insbesondere gegen den Klimawandel. Aber sie wusste, wie man den Kanzlerjob macht. Ihr Ex-Minister de Maizière erzählt dazu eine kleine Anekdote, nämlich dass der zeitweilige Vizekanzler und SPD-Chef Franz Müntefering gesagt habe, er steige in jedes Flugzeug, das von Angela Merkel geflogen werde. Sie mache das perfekt. Man wisse nur nicht, wo es hingeht.
„Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ Die Dokumentation mit fünf etwa 30 Minuten langen Teilen kann ab dem 8. Juli in der ARD-Mediathek abgerufen werden. Eine auf 90 Minuten gekürzte Fassung zeigt Das Erste am 15. Juli um 22.30 Uhr