Das Ausland feiert sie schon seit langem, für ihren jüngsten Roman gab es den Booker Prize – und doch fliegt Jenny Erpenbeck in Deutschland unter dem Radar. Dabei schreibt die Autorin so persönlich und politisch über deutsche Geschichte, wie das nur die ganz Großen können.
Die deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck hat am Dienstag den International Booker Prize für ihren Roman „Kairos“ erhalten. Die Auszeichnung gilt als einer der renommiertesten Literaturpreise weltweit, Erpenbeck ist die erste Deutsche unter den Gewinnern – noch dazu war sie so oft nominiert wie kein anderer deutscher Autor. Mit ihr wurde auch erstmals ein Mann als Übersetzer ausgezeichnet: Michael Hofmann übertrug „Kairos“, das hierzulande schon 2021 erschienen ist, ins Englische.
In dem Roman geht es um eine ungleiche Liebesbeziehung und Machtmissbrauch zwischen einer 19-Jährigen und einem 50 Jahre alten Autor, das Panorama entfaltet sich während der letzten Tage der DDR. Die Autorin habe Liebe und Politik zu einem, wie die Jury findet, preiswürdigen Epos verwoben. In der Begründung heißt es weiter: „Erpenbeck lädt Sie ein, die Verbindung zwischen diesen generationsbestimmenden politischen Entwicklungen und einer verheerenden, sogar brutalen Liebesbeziehung herzustellen und dabei die Natur von Schicksal und Entscheidungsfreiheit in Frage zu stellen.“ Wie bei der DDR selbst beginne auch das Werk mit Optimismus und Vertrauen, und löse sich schließlich auf.
Jenny Erpenbeck wird für den Literaturnobelpreis gehandelt
Für ein internationales Publikum kommt die Auszeichnung von Jenny Erpenbeck wenig überraschend. Schon vor zwei Monaten schrieb die „New York Times„, Erpenbeck sei die wahrscheinlichste Kandidatin für den nächsten Literaturnobelpreis. In Deutschland findet die Autorin hingegen wenig Anerkennung. Den deutschen Buchpreis bekam sie nie. In den Kommentarspalten zur Meldung des Booker Preises hieß es unter anderem: „Dass ich die Autorin bis dato nicht kannte, muss unbedingt korrigiert werden.“
Wer also diese unbekannteste Bekannte der Literatur?
Geboren wurde ist Jenny Erpenbeck 1967 in Ostberlin als Tochter einer Arabisch-Übersetzerin. Der Vater war Physiker, Philosoph und Schriftsteller, die Großeltern väterlicherseits waren ebenfalls Literaten. Und damit schon vieles angelegt, was das Wirken von Erpenbeck beeinflussen sollte: das Schreiben der Familie, das Aufwachsen in der DDR. Vor allem Kindheit und Jugend in Ostdeutschland spielen in den Texten von Erpenbeck oft eine wichtige Rolle. Sie verarbeitet, was sie erlebt hat. Auch in „Kairos“.
Die Freiheit war ja nicht geschenkt. Sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben.
In dem ausgezeichneten Roman beschreibt die Autorin den Untergang der DDR als Verlustgeschichte, als Abgesang – ohne die DDR dabei aber romantisch zu verklären. 22 Jahre alt war Erpenbeck, als die Mauer fiel. Bis heute scheint das nachzuhallen. Über ihre eigene Wendeerfahrung soll sie einmal gesagt haben: „Die Freiheit war ja nicht geschenkt. Sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben.“
In Deutschland erschien Kairos von Jenny Erpenbeck bereits im Jahr 2021. Penguin, 384 Seiten, 22 Euro.
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Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Buchbinderin, dann ein praktisches Jahr als Requisiteurin am Kleist-Theater in Frankfurt an der Oder und Ankleiderin an der Staatsoper Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität und Musiktheater-Regie an der Hanns Eisler-Hochschule in Berlin. Im Anschluss, ab 1997, arbeitete sie als Regisseurin.
Etwa zur gleichen Zeit soll sie mit dem Schreiben begonnen haben, vielleicht auch, um die Lücke des Vaters zu füllen. Der nämlich hatte das Schreiben mit der Wende aufgegeben. Im Jahr 1999 erschien Erpenbecks erster Roman, Titel: „Geschichte vom alten Kind“. 25 Jahre später gilt sie international als die wichtigste deutsche Autorin.
In einem Interview mit dem RBB hat Erpenbeck selbst kürzlich eine mögliche Antwort auf die Frage geliefert, wieso ihre Werke im Ausland mehr Beachtung finden als in Deutschland. Es gebe in den USA und in England ein „großes Nachdenken“ darüber, ob man aus dem Kapitalismus irgendwie rauskomme, sinnierte sie da. „Und es gibt tatsächlich ein großes Interesse daran, zu verstehen, woran zum Beispiel diese vermeintliche Alternative DDR gescheitert ist.“ STERN PAID 36_23 Westermann liest 20.05
In Deutschland stoße die Ost-West-Thematik auf Ablehnung
In Deutschland sei das anders. Hier erlebe sie, dass sich deutsche Leser von der Ost-West-Thematik abgestoßen fühlten. Vor allem im Westen Deutschlands zeige man sich des Themas überdrüssig. „Es ist auch schwierig in einem Land, wo beide Hälften in das Problem verwickelt sind, aber nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben“, so Erpenbeck beim RBB. Von außen auf die Erfahrung zu blicken sei da einfacher. Trotzdem betonte die Autorin immer wieder, auch hier in Deutschland Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erfahren.
Dass Jenny Erpenbeck als Kandidatin für den Nobelpreis gehandelt werde, ist ihr selbst offenbar eher unangenehm. Sie habe die Befürchtung, sagte sie im Interview, dass sie bis ins hohe Alter mit dem Label „Hoffnung für den Nobelpreis“ rumlaufen werde – ohne den Preis je zu bekommen.
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