Let’s go, Joe? Oder Let it go, Joe? Wie sehr hat Biden das verkorkste TV-Duell geschadet? Räumt er das Feld? Wer könnte ihn dazu bringen? Und: wann, wie und für wen?
Noch schlimmer anzuschauen als das TV-Duell Biden vs. Trump waren 90 Minuten zuletzt nur bei einem EM-Spiel der englischen Fußballnationalmannschaft.
Zwar ist die Debatte, ob der 81-Jährige für den Job als mächtigster Mann der Welt zu alt ist, allmählich älter als er selbst. Doch nach dem katastrophalen Auftritt vor mehr als 50 Millionen Fernsehzuschauern wird sie dringlicher geführt als jemals zuvor.
„Du hast jede Frage beantwortet“, lobte Jill Biden ihren Gatten nach der CNN-Debatte vor bemüht euphorischen Unterstützern. Ein Kompliment, schmerzhafter als eine Ohrfeige. Sie hätte auch sagen können: „Darling, du bist nicht umgekippt! Amazing!“ Aber was hätte die First Lady auch vorbringen sollen? Gegen ihren im besten Fall stotternden, im schlimmsten Fall völlig verlorenen Mann wirkte Donald Trump wie ein quickfideler Pfadfinder auf Ritalinentzug.
„Let’s Go, Joe!“ stand weiß auf blau hinter den Bidens. „Let it go, Joe“ wäre aus Sicht vieler schockierter Demokraten wohl passender gewesen. Könnte das wirklich passieren? Und wenn ja: Wie? Infobox US-Wahl-NL
Wie sehr hat das TV-Debakel Biden bislang geschadet?
Das nationale und internationale Medienecho fiel unisono verheerend aus. Auch die nackten Zahlen sprechen Bände. Einer gemeinsamen Umfrage der „New York Times“ (NYT) und des Siena College zufolge verlor Biden drei Prozent seiner registrierten Wähler an Trump – noch nie war der Abstand zwischen den beiden Kandidaten so groß.
Ein paar Tage nach dem Fiasko stellten sich die 24 demokratischen Gouverneure geschlossen hinter ihren Präsidenten. „Der Präsident hat uns immer Rückendeckung gegeben. Wir werden auch ihm den Rücken stärken“, sagte der Gouverneur von Maryland, Wes Moore, nach dem Krisentreffen im Weißen Haus. Möglich ist allerdings, dass der demonstrative Schulterschluss Biden nur einen gesichtswahrenden Ausweg bieten soll. Anstatt sich wie ein getretener Hund zu verkriechen könnte er seinen Abgang als Rückzug zum Wohle der Partei verkaufen.
Denn es gibt sie bereits, die ersten Abtrünnigen. 14 namhafte Demokraten haben inzwischen öffentlich an Bidens Eignung gezweifelt, zwei von ihnen haben den Präsidenten offen zum Verzicht geraten. Gefährlicher als ein paar Stiche in den Rücken wäre allerdings ein Griff ins Portemonnaie. Wie die NYT berichtet, machen die ersten Großspender zusehends Druck auf Biden, drohen sogar damit, parteiübergreifende Zahlungen einzustellen. Einflussreiche Gönner wie Netflix-Gründer Reed Hastings haben Biden öffentlich zum Rücktritt aufgefordert. Disney-Erbin Abigail E. Disney beteuerte in einer Mail, dass die Demokraten „keinen weiteren Cent von mir erhalten werden, bis sie in den sauren Apfel beißen“. Dabei steht die teuerste Wahlkampfphase erst noch bevor. Joe Biden auf Abschiedstour? 6.10
Wer hat Einfluss auf Biden?
Biden ist einer der erfahrensten Politiker des Landes, seit mehr als einem halben Jahrhundert gehört er zur Washingtoner Machtelite. Er ist sich des Ausmaßes seiner Niederlage bewusst. Trotzdem scheint er nach wie vor überzeugt, dass er der Einzige ist, der die Trumpokalypse verhindern kann. Und solange seine engsten Vertrauten das genauso sehen, wird er dabei bleiben.
Die First Family kam am vergangenen Wochenende im Camp David, dem präsidialen Landsitz, zu einem angeblich länger geplanten Familienwochenende zusammen. Dort sollen die Bidens ihrem Mann, Vater und Großvater zum Weitermachen angehalten haben. Tatsächlich dürfte vor allem Jill Biden den größten Einfluss auf den angeschlagenen Amtsinhaber haben. Abseits der Familie gehören auch Ex-Stabschef Ron Klain, Jurist Mike Donilon und sein langjähriger Berater Ted Kaufmann zum Club der Präsidentenflüsterer. Als „Küchenkabinett“ bezeichnet die Nachrichtenwebsite „Axios“ den engsten Kreis.
Könnte man Joe Biden zum Rücktritt zwingen?
Theoretisch ja, praktisch nein. Am einfachsten wäre es, träte Biden von sich aus beiseite. Direkt bestimmen könnte Biden seinen Nachfolger nicht. Stattdessen müsste er die knapp 3900 gesammelten Stimmen der Delegierten freigeben, die sich anschließend hinter einem beliebigen neuen Kandidaten versammeln dürften. „Open Convention“ nennt sich dieses Prozedere – eine absolute Seltenheit in der jüngeren US-Politik-Geschichte, die letzte gab es 1968.
Sollte sich Biden trotz meuternder Partei weigern, das Steuer freiwillig aus der Hand zu geben, könnte es ihm niemand entreißen, ohne dem Nachfolger erheblich zu schaden. Zwar sind die Delegierten, die bereits für Biden gestimmt haben, eigentlich angehalten, auch zu ihrem Wort stehen. Verpflichtet sind sie allerdings nur ihrem Gewissen. Kämen sie zum Schluss, dass Biden nicht mehr der beste Kandidat im Sinne ihrer Wähler ist, könnten sie ihn auf den letzten Metern fallen lassen. Dass sich dafür eine nötige Mehrheit findet, ist allerdings extrem unwahrscheinlich. Mal ganz abgesehen von den realpolitischen Folgen: Die Demokraten würden sich in innerparteilichen Grabenkämpfen zerfleischen. Das würde nicht nur Nerven, sondern vor allem Zeit kosten – und die wird jetzt zur wichtigsten Wahlkampfressource.
Bis wann müsste der Wechsel vollzogen sein?
Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten wird erst auf dem Parteitag Mitte August in Chicago offiziell ernannt. Sollte der Noch-Präsident die Bombe wirklich erst dann platzen lassen, würde er einem neuen Kandidaten wertvolle Wochen rauben. Dabei ist die Aufgabe, die Parteibasis hinter sich zu bringen, vergraulte Wähler zurückzuholen und vor allem Unentschlossene zu gewinnen auch ohne tickende Uhr schwer genug.
Wirft Biden erst nach seiner offiziellen Ernennung das Handtuch, wäre auch das noch lange kein Freifahrtschein für Trump. Scheidet ein gewählter Kandidat oder sein Vize aus (oder stirbt), kann das Demokratische Nationalkomitee in Absprache mit der Kongressführung und dem Gouverneursverband einen neuen Kandidaten ernennen.
Warum ist Kamala Harris die logische Alternative?
Stand jetzt wäre jeder besser als Joe Biden. Wirklich jeder. Einer CNN-Erhebung zufolge glaubt nur noch einer von vier Wählern, dass der amtierende Präsident auch der geeignetste nächste Präsident wäre. 75 Prozent sind dafür, dass die Demokraten irgendjemand anderen aufstellen.
Wer dieser Mr. oder Mrs. Somebody sein könnte? Da stehen einige Namen im Raum: Gouverneure wie Gavin Newsom, Gretchen Whitmer oder JB Pritzker, Verkehrsminister Pete Buttigieg oder gar Ex-First Lady Michelle Obama (einen genaueren Blick auf die potenziellen Nachfolger finden Sie hier). Für alle gibt es gute Gründe, warum sie es nicht werden – zu unbekannt, zu „schmierig“ oder einfach kein Interesse.
Bliebe Kamala Harris. An die erste Vizepräsidentin der US-Geschichte wurden eine Menge Erwartungen gestellt – von denen sie bis jetzt nur wenige erfüllt hat. Auch fachlich werden der 59-Jährigen Defizite nachgesagt. Und ob sie als schwarze Frau die entscheidenden Wechselwähler überzeugen kann, ist mindestens fraglich. Trotzdem wäre sie die naheliegendste Biden-Erbin. Nicht nur, weil sie laut aktuellen Umfragen derzeit nur knapp hinter Trump läge. Harris wäre auch unter rein pragmatischen Gesichtspunkten die logische Alternative. Biden fiele es leichter, „seine“ Delegierten an seine Nummer Zwei zu verweisen, was den Demokraten einen lähmenden Machtkampf ersparen würde. Harris könnte außerdem auf Bidens üppige Wahlkampfkasse zurückgreifen – was bei anderen Kandidaten deutlich komplizierter wäre.
Letztlich entscheiden wohl die kommenden Tage über Bidens Schicksal. Sollte er erneut öffentlich patzen, während er sich noch die Wunden leckt, dürfte er nicht mehr zu halten sein.
Weitere Quellen: „New York Times„; „New Yorker„; „Politico„; AP; „Washington Post„; CNN