Ein Jahr nach den Enthüllungen um Till Lindemann sind Rammstein wieder auf Tour. Und die ach so reflektierte Musikbranche hat kaum Konsequenzen aus dem Skandal gezogen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Politik einschreitet?
Während unserer Recherchen über die deutsche Musikbranche erreicht uns ein anonymer Anruf. Die Frau am anderen Ende der Leitung hat über eine unserer Interviewpartnerinnen erfahren, dass es einen großen Artikel im stern geben soll, sie möchte, wie sie sagt, Wichtiges beisteuern.
Dann erzählt sie folgende Geschichte: Sie sei Tourmanagerin, mit namhaften Deutschrap-Acts auf Festivals unterwegs. Im Sommer des vergangenen Jahres, also Wochen nach den Enthüllungen um Till Lindemanns angebliche Sex-Eskapaden mit jungen weiblichen Fans, sei sie nach einem Großkonzert Zeugin eines dramatischen Vorfalles geworden. „Die Musiker feierten mit ihren Crews im Backstagebereich, es wurde getanzt und viel getrunken“, so die Anruferin. Irgendwann sei außerdem eine Schar leichtbekleideter junger Frauen dazugestoßen.
Gegen halb zwei Uhr morgens habe sie die Party verlassen, um mit ihrem Team im Nightliner-Bus zum nächsten Festival zu fahren. „Von dort habe ich plötzlich gesehen, wie vier Crewmitglieder eines anderen Acts eine bewusstlose wirkende Frau in ihren Bus schleppen wollten.“ Sie sei auf die Gruppe zugelaufen, habe gefragt, was das solle. Die Männer, Mitarbeiter aus dem direkten Umfeld eines deutschen Rap-Stars, hätten die stark alkoholisierte Frau daraufhin zu Boden fallen lassen und seien in ihren Bus geflüchtet. Benommen habe sie nur ein leises „Danke“ rausbekommen. Die Anruferin ist sich sicher: Wäre sie nicht eingeschritten, „wäre das Schlimmste geschehen“.
Es geht nicht nur um Rammstein: Erschütternde Beobachtungen aus der Mitte des Festivalbetriebs
Auch wenn uns unser gemeinsamer Kontakt die Identität der Frau glaubhaft bestätigte, haben wir die Schilderung der Anruferin nicht in unsere Reportage aufgenommen, weil wir ihre Authentizität nicht prüfen konnten. Und doch bewegt sie uns seither, will uns nicht loslassen. Die Musikszene war immer diese Traumwelt, ein Ort der Freiheit, der Leidenschaft, des Hochgefühls. Doch welche Freiheit soll das sein, in der sich ein Teil der Fans nicht sicher fühlen darf?
Wenn Musiker auf ihr Publikum treffen, wenn Kunst im gleichen Raum, zur gleichen Zeit zur direkten Verbindung wird, entsteht ungeheure Energie. Sie auszunutzen und Grenzüberschreitungen als Touralltagsbegleiterscheinung zu glorifizieren, scheint ein weit verbreitetes Problem zu sein. Nicht nur unter Stars, auch in ihrem Arbeitsumfeld. Jede Nacht wird zur Aftershowparty, ein fortwährendes „Was auf Tour passiert, bleibt auf Tour“-Gefühl – das kann dort gefährlich werden, wo eine schon immer falsch verstandene Pose des Rock’n’Roll in ungute Taten umgesetzt wird.
Dieser Tage erscheint ein Sachbuch der investigativen Rechercheure Lena Kampf und Daniel Drepper, die vor einem Jahr an den Enthüllungen rund um die Band Rammstein und ihres bedenklichen Casting-Systems beteiligt waren. Das Buch „Row Zero“ ist eine bedrückend dichte Zustandsbeschreibung jener Unkultur, die in der gesamten Musikbranche nach wie vor normal zu sein scheint. Autor und Autorin zeigen klar auf: Die Branche hat zwar das Problem weithin realisiert, die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, sind aber eindeutig zu lahm und unentschlossen.
Ungerechtigkeit und Gender-Paygap in einer Branche, die sich selbst als progressiv betrachtet
Das Problem sind nicht nur harte und zum Teil kriminelle Übergriffe, ja gar Vergewaltigungsversuche. Die Missstände reichen viel tiefer, sie finden im Arbeitsalltag statt. In keinem anderen Metier wäre es möglich, dass – wie bei manchen Musikfestivals – fast ausschließlich Männer auftreten. Und das nicht nur im Rock. Ausgerechnet der NDR, der in einem Podcast ebenfalls die Affäre um die Band Rammstein aufarbeitet, veranstaltet kommenden Monat in Hannover das Plaza Festival, mit folgenden Acts: Alle Farben, ClockClock, Clueso, James Arthur und Bryan Adams. Anteil weiblicher Musiker gleich null.
Hinzu kommt: Der massive Gender-Paygap zwischen männlichen und weiblichen Künstlern, nachweislich in absolut gleichwertigen Positionen, ist eine Schande für ein Metier, das sich selbst als gesellschaftlich progressiv begreift.
Kulturstaatssekretärin Claudia Roth hat mit dem Deutschen Kulturrat nun die Initiative ergriffen, im Laufe des Jahres wird ein Code Of Conduct präsentiert, an dem auch die Musikbranche beteiligt ist. Die Arbeit der Beratungsstelle Themis wird ausgebaut, die vom Kulturstaatsministerium unterstützte Initiative Musik soll Geschlechtergerechtigkeit voranbringen und gezielt Frauen und non-binäre Personen fördern. Die Gender Equality Now Konferenz von Music Women Germany am 5. Juni 2024 wird sich mit einem eigenen Panel dem Thema „Row Zero“ widmen. Ein neu eingerichteter Fonds wird Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt unterstützen. Roth, die in frühen Berufsjahren selbst als Managerin der Band Ton Steine Scherben in der Branche gearbeitet hat, setzt damit ein starkes Zeichen.
Was soll das für eine Freiheit sein, die anderen die Sicherheit raubt?
Aber mal ehrlich: Sollte es nicht umgekehrt sein? Sollten nicht die Kreativen des Landes, die Menschen, die vielen jungen Leuten als Idole gelten, selbst auf die Idee kommen, in ihrem Metier für geordnete Verhältnisse und Gerechtigkeit zu sorgen? Was sind das für Vorbilder, wenn es erst den Druck aus dem Bundeskanzleramt und des größten Interessensverbandes der Kulturwirtschaft braucht, damit endlich Mindestanforderungen von Gleichberechtigung und Sicherheit aller Mitarbeiterinnen und Fans umgesetzt werden?
Die Freiheit der Kunst ist eines unserer höchsten Güter, sie steht im Grundgesetz zu Recht ganz weit oben. Aber wie der Geschäftsführer des deutschen Kulturrates in unseren Gesprächen bemerkt: Es gibt einen Artikel, der noch weiter oben steht: In Artikel 1 haben uns die Gründerväter dieser Republik ihre Lehre aus 12 finstersten Jahren mitgegeben, nämlich dass die Würde des Menschen unantastbar sei und bleiben muss. Das gilt auch für Groupies. Hass, Misogynie, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung sind keine Meinung, sie sind aber vor allem eines nicht: Kunst.