Fast das gesamte Kabinett ist am Montag mit Olaf Scholz in einem Flieger nach Warschau geflogen. Doch wer würde im Fall eines Unglücks eigentlich die Regierungsverantwortung übernehmen?
Sie sei möglichst nie im selben Flugzeug wie ihr Mann geflogen, hat Coretta Scott King (1927-2006), Ehefrau des Bürgerrechtlers Martin Luther King, in ihren Memoiren einst geschrieben. Damit im Falle eines Absturzes die Kinder nicht elternlos aufwachsen müssten.
Bei der Bundesregierung scheinen solche Überlegungen keine Rolle zu spielen. Am Montag reiste Olaf Scholz (SPD) zu den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen nach Warschau – und mit ihm fast das ganze Kabinett. Zehn Minister und Ministerinnen sowie zwei Staatsministerinnen begleiteten den Kanzler, darunter Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner. Fast alle im selben Flieger.
Doch was würde passieren, wenn dieser abstürzt? Wer würde dann die Regierungsverantwortung übernehmen?
„Designated survivor“ wird diese Person auch genannt, nach einer legendären US-Actionserie, in der Kiefer Sutherland als unbedeutendes Kabinettsmitglied Tom Kirkman nach einem Anschlag auf die Regierung plötzlich überraschend US-Präsident wird.
Doch wer wäre in Deutschland der „Designated survivor“?
Der „Designated Survivor“ – eine Ministerin
Natürlich sei das Risiko bewusst, wenn alle in einem Flugzeug reisten, heißt es aus Regierungskreisen. Man halte es aber für sehr gering. Das Bundespresseamt teilt auf Anfrage lediglich mit: „Die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist durch die verfassungsrechtlichen Vertretungsregelungen jederzeit sichergestellt.“
Diese Regeln finden sich auf den Webseiten des Bundesinnenministerium, das für das Protokoll im Inland zuständig ist. Hier kann man nachlesen, dass der Bundeskanzler durch Robert Habeck (Grüne) vertreten werden kann, dieser wiederum durch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), der seinerseits ebenfalls von Habeck vertreten werden kann. Ist die Vertretung verhindert, übernimmt laut Vorschrift „das in der Dienstaltersliste auf den zu Vertretenden folgende Mitglied“. Wenn es da niemanden gibt, übernimmt, wer vom Dienstalter her am nächsten an dem zu Vertretenden dran ist.
Bei der Dienstaltersliste stehen Svenja Schulze und Hubertus Heil ganz oben, weil sie beide schon in der letzten Regierung dem Kabinett angehörten. Sie wurden am 14. März 2018 zum ersten Mal ernannt. Habeck, Lindner und die meisten anderen Kabinettskollegen sind erst seit dem 8. Dezember 2021 im Amt. Die Dienstjüngsten sind Familienministerin Lisa Paus, die am 25. April 2022 für die glücklose Anne Spiegel nachrückte, und Boris Pistorius, der nach dem Rücktritt von Christine Lambrecht aus dem niedersächsischen Innenministerium in den Bendlerblock wechselte.
Baerbock Flug erneut gescheitert 23.40
Für den „Designated Survivor“ ist aber nicht die Vertretungsregel, sondern die Rangfolge entscheidend. Auch sie ist festgelegt. Auf den Kanzler folgen erwartbar der Vizekanzler Robert Habeck und der inoffizielle Vize-Vize Christian Lindner. Danach kommen Innenministerin Nancy Faeser, Außenministerin Annalena Baerbock, Justizminister Marco Buschmann, Arbeitsminister Hubertus Heil und dann erst Verteidigungsminister Boris Pistorius.
Merkel musste notlanden
Ganz unten in der hierarchischen Nahrungskette steht Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt als Bundesminister für besondere Aufgaben, noch hinter Bauministerin Klara Geywitz und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Seinen wirklichen Einfluss auf das Kabinett als Scholz‘ engster Berater spiegelt das freilich nicht wider.
Bei der Reise nach Polen hätte bei einem Unfall Innenministerin Nancy Faeser die Regierungsverantwortung übernommen – sie reiste nicht im gemeinsamen Flieger, sondern getrennt an. Danach wäre es Boris Pistorius gewesen, der ebenfalls unabhängig anreiste.
Wären beide im Flieger gewesen, wäre protokollarisch Arbeitsminister Hubertus Heil der „Designated Survivor“ gewesen.
Auch wenn die Regierungsflieger der Luftwaffe als sicher gelten, so gab es in der Vergangenheit immer wieder Pannen. Die dramatischste: Im November 2018 musste die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren Flug zum G20-Gipfel in Argentinien bereits kurz nach Abflug wieder abbrechen und in Köln notlanden. Durch einen Defekt fielen sämtliche Kommunikationssysteme aus. Mit an Bord war auch Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz. Merkel strandete mit ihrer Delegation im „Maritim“-Hotel in Bonn, statt in Buenos Aires zu landen und flog am nächsten Morgen per Linie weiter.
Polens Premier verlor bei Absturz Zwillingsbruder
Beim Flug nach Warschau dürfte es solche Sorgen nicht gegeben haben: Die Bundesregierung flog im neuen Airbus A350 „Kurt Schumacher“. Dieser ist erst vier Jahre alt, wurde jetzt nach Nachrüstung erstmals wieder in den Einsatz genommen.
Er gilt als das Modernste, was die Luftfahrttechnik derzeit für „VIP“-Flüge herstellt, hat abhörsichere Telefone, ist auch in der Luft durchgängig erreichbar.
Starb 2010 bei einem Flugzeugabsturz: Polens damaliger Präsident Lech Kaczyński (hier 2007 bei einem Handball-WM-Finale zwischen Polen und Deutschland mit Ex-Bundespräsident Horst Köhler).
© Horstmüller
Dass der Ausfall einer ganzen Regierung nach einem Absturz nicht nur ein fiktives Film-Szenario ist, weiß man nirgends besser als in Polen. Am 10. April 2010 verunglückte der polnische Regierungsflieger wegen schlechter Wetterverhältnisse beim Anflug auf den russischen Militärflugplatz Smolensk. Alle 96 Insassen starben, darunter Polens Präsident Lech Kaczyński, ranghohe Militärs und Kirchenvertreter sowie zahlreiche Abgeordnete.
Besonders tragisch war das Unglück für den früheren Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczyński. Lech Kaczyński war sein Zwillingsbruder.