Was nach Science Fiction klingt, ist für einige Menschen Realität, auch für die Bonnies. Sie leiden an einer „Dissoziativen Identitätsstörung“ – mehreren Persönlichkeiten in einem Körper. Uns haben vier von ihnen ihre Geschichte erzählt.
Wer kennt sie nicht, die inneren Stimmen, die sich vor allem vor wichtigen Entscheidungen gerne mal zu Wort melden – und so völlig gegensätzliche Ansichten vertreten. Wir alle haben verschiedene Persönlichkeitsanteile, die nicht immer an einem Strang ziehen. Was aber, wenn sich das Ganze nicht nur in unserem Kopf abspielt, sondern so ausgeprägt ist, dass wir aus mehreren ausgeprägten Persönlichkeiten bestehen? Dann sprechen wir von einer „Dissoziativen Identitätsstörung„. Aber wie ist es eigentlich, Viele zu sein?
Die Bonnies wissen das sehr gut, sie haben eine „Dissoziative Identitätsstörung“ und sprechen auf Social Media darüber, wie das ihr Leben prägt. Wie viele Bonnies es gibt, das wissen sie selbst nicht genau. Wirklich greifbar wird das Ganze aber erst, wenn man ein paar von ihnen kennenlernt, wenn man sie sprechen hört und sieht, dass da wirklich unterschiedliche Charaktere in einer Person leben. Uns haben vier der Bonnies exklusiv mit in ihre Gedankenwelt genommen. In den nächsten Tagen lernen wir Tessa, Isa, Fiona und 46 etwas besser kennen. Heute erzählt Tessa von ihrem Leben.
Ich bin Tessa und ich bin zehn Jahre alt. Aber ich bin schon richtig lange zehn, deshalb bin ich auch ein bisschen erwachsener als andere Kinder mit zehn. Aber irgendwie auch nicht, weil ich keine zehn Jahre am Stück im Körper war. Ich weiß nicht so richtig, wie es mir geht. Ich glaube, nicht so gut, weil mein Körper wehtut von Erinnerungen an früher. Das ist immer schlimm. Ich finde es auch immer blöd, viel innen zu sein – also keinen Zugriff auf den Körper zu haben. Da ist alles nicht so lieb, manchmal tun die anderen sich auch gegenseitig weh. Deswegen bin ich lieber im Körper, aber das bin ich grad nicht so viel.
Die wertvolle Zeit im Körper
Wenn ich im Körper bin, kuschle ich am liebsten mit Rufus, meinem Hund. Der mag mich am meisten von uns allen. Mit unserer Partnerin Meike kuschle ich auch gerne oder spiele was. Mit unserer besten Freundin Nicky gehe ich am liebsten Eis essen. Früher konnte ich nichts schmecken, das hat sie mit mir geübt. Als ich das erste Mal Eis gegessen habe, war es richtig komisch, weil es kaltes Essen an der Stange war. Das haben wir zusammen mit einem Freund an der Tankstelle gekauft. Das erste Mal am Meer war auch toll. Ich wollte schon immer ans Meer. Und dann haben Freunde mich an einem Tag, an dem es mir nicht so gut ging, einfach ins Auto gepackt und wir sind ans Meer gefahren. Und ich durfte ausnahmsweise auch da sein und musste mich nicht verstecken.
Manchmal muss ich mich aber verstecken, wenn ich im Körper bin. Ich finde es zum Bleistift traurig, dass ich keine Freunde habe, die auch zehn Jahre alt sind, weil ich in einem großen Körper bin. Ich habe aber Freunde, die älter sind als ich, was auch cool ist. Ich habe aber immer Angst, dass die nicht so gern Zeit mit mir verbringen, weil ich noch so klein bin. Aber ich glaub das stimmt nicht, die mögen mich auch gerne. Manchmal muss ich aber auch erwachsen spielen, wenn ich im Körper bin und wir zum Beispiel im Restaurant essen bestellen. Ich kann das zwar gut, aber ich mag es nicht, dass ich mich verstellen muss. In der Therapie musste ich auch erst lernen, dass ich da sein darf.
Aber auch sonst ist es richtig anstrengend mit vielen. Ich glaube, ich fände es alleine cooler. Außer ich wäre der Chef, dann wäre es auch okay. Aber wir haben keinen Chef. So ist es sehr anstrengend, weil viele innen weinen und traurig sind und eine Umarmung wollen. Man kann sich aber nicht um alle kümmern, weil es so viele sind und die nicht alle in den Körper kommen können und wie ich auch mal etwas Gutes erleben. Das tut mir dann leid. Aber ich finde es auch blöd, dass ich selbst nicht so viel Zeit habe.
Der Wunsch nach Verständnis
Ich bin zwar froh, dass ich nicht immer im Körper sein muss, weil das auch anstrengend sein kann, aber ich habe trotzdem zu wenig Zeit. Ich würde gerne mehr mit Meike und Nicky erleben, mehr mit Rufus spielen und sowas. Innen sind außerdem auch viele böse. Aber die wollen eigentlich gar nicht böse sein, hat mir mal eine Therapeutin erklärt, sie sind böse, weil sie selbst was Böses erlebt haben. Sie tun anderen von uns trotzdem weh. Es ist schlimm, dass man auch innen nicht sicher ist.
In der Zukunft wünsche ich mir deshalb, dass ich ganz viel Zeit im Körper habe. Aber nicht zu viel. Und viel Fanta trinken kann. Und viel machen kann. Und dass viele Leute mehr verstehen und wissen, warum es mich gibt und was wir erlebt haben und dass es schlimm ist und dass die Leute nicht denken, dass ich verrückt bin.
„Eine Bonnie kommt niemals allein. Meine Leben mit dissoziativer Identitätsstörung“, Bonnie Leben, erscheint am 23. Mai 2024 im Heyne Verlag, 256 Seiten, 16 Euro.
© Heyne Verlag
Dieses Protokoll ist der dritte Teil einer vierteiligen Serie zum Thema „Dissoziative Persönlichkeitsstörung“. Wir finden: Um auch nur im Ansatz verstehen zu können, wie es sich anfühlt, „Viele“ zu sein, sollte man mehr als nur einem der Persönlichkeitsanteile zuhören. Deshalb lassen wir vier der Bonnies zu Wort kommen – und uns von ihnen in ihre Welt mitnehmen. Im nächsten Teil lernen wir 46 kennen. Sie ist die einzige der Bonnies, die eine Liebesbeziehung führt.
Teil eins der Serie finden Sie hier.
Teil zwei der Serie finden Sie hier.