In Osnabrück fordert die CDU um den Politiker Marius Keite den Boykott einer Kunstausstellung über kannibalistische Mütter, die Künstlerin hat bereits Morddrohungen erhalten. Der Politiker allerdings hat die Ausstellung noch gar nicht besucht – bis jetzt. Ein Rundgang mit Überraschungen.
Der Mann, der zum Boykott der aktuellen Ausstellung der Kunsthalle Osnabrück aufgerufen hat, steht an einem Dienstagmittag vor der aktuellen Ausstellung der Kunsthalle Osnabrück. Das Sakko trägt er offen, die Hitze steht über dem Kopfsteinpflaster. Schlechtestes Museumswetter.
Marius Keite bequemt sich heute trotzdem in die Ausstellung. Er ist Fraktionsvorsitzender der CDU in Osnabrück und maßgeblich verantwortlich dafür, dass es neuerdings so etwas wie einen Kulturskandal in der Stadt gibt.
Wegen Kannibalismus: CDU Osnabrück fordert Boykott einer Kunstausstellung
Nachdem bekannt wurde, dass die Kunsthalle Osnabrück im Rahmen ihres Jahresprogramms mit dem Titel „Kinder, hört mal alle her!“ eine Ausstellung der Künstlerin Sophia Süßmilch zeigen würde, in der es unter anderem in einer Performance um nackte kinderfressende Mütter geht, gab die CDU, mit Marius Keite an vorderster Front, eine gepfefferte Pressemitteilung heraus und rief zum Boykott auf.
Nun gibt es vieles, was man boykottieren sollte: weiße Sneaker zu Anzügen, Talkshows, lasches Sprudelwasser, Berliner WG-Partys, Zelt-Urlaube, Cargohosen, die Nationalhymne, Lifecoaches, Sülze, Louis-Vuitton-Taschen, Karaoke-Bars, Frühstück im Bett, Kreuzfahrten, Sanifair-Toiletten, Harald-Schmidt-Interviews, Mittelaltermärkte, offene Briefe, und natürlich Karneval.
Morddrohungen gegen Künstlerin Sophia Süßmilch
Kunst gehört aus vielen Gründen aber eigentlich nicht dazu, weshalb die kleine Osnabrücker CDU nun plötzlich im Zentrum einer mittelgroßen Debatte stand, im ganzen Land wurde mal wieder über die Kunstfreiheit diskutiert. Leider sorgte das Ganze nicht für intellektuelle Höhepunkte in den Feuilletons, sondern mündete in Morddrohungen gegen die Künstlerin Sophia Süßmilch.
Und ausgerechnet Keite, der das alles mit ins Rollen gebracht hatte, hat die Kunstausstellung noch gar nicht besucht. Höchste Zeit, das zu ändern. STERN PAID 09_24 HipHop10.23
Privat würde er da eigentlich nicht hingehen, gibt er am Telefon noch zu bedenken. Das erscheint immerhin folgerichtig, was wäre das denn sonst auch für ein Boykott. Er wagt es dann doch.
Wir haben für das Treffen keinen großen Plan ausgemacht, wollen ein bisschen die Kunst angucken, reden. Ich habe ein paar Fragen (zum Beispiel: Was zum Teufel sollte das alles?!) im Kopf, mal schauen, was wird.
Es kommt zum Zufallstreffen mit den Verantwortlichen
Doch wir schaffen es nicht einmal unbemerkt bis zur Kasse. Im Eingangsbereich der umfunktionierten Kirche laufen wir der Museumsdirektorin und der Kuratorin der Ausstellung in die Arme. Das ist jetzt unangenehm.
„Hallo Herr Keite“, sagt die Direktorin Juliane Schickedanz. Händeschütteln. Sie: in lilafarbener Hose und mit überdimensionaler Künstlerbrille. Er: in dunklem Anzug und mit smarter Juristenbrille. Über die Überraschung ist hier niemand so richtig glücklich. Aber jetzt sind wir nun mal da, also bieten uns die beiden Frauen eine exklusive Führung an. Die nehmen wir natürlich.
Kuratorin erklärt, was die Ausstellung transportieren soll
Zunächst aber: ein paar einleitende Worte der Kuratorin Anna Holms, durchaus eloquent vorgetragen. Es geht um die Absurditäten von gesellschaftlichen Normen, um die Satire und den Humor der Bildsprache von Sophia Süßmilch, um die Beziehung zwischen Kind und Mutter und die Rolle von gebärfähigen Menschen in unserer kapitalistischen Gesellschaft und darum, was denn eigentlich los wäre, wenn die sich der Rolle verweigern würden, die ihnen zugeschrieben wird; Kannibalismus als ultima ratio.
Holms und Schickedanz zählen zudem penibel auf, was alles getan wurde, damit hier bloß niemand vor Ort die Nerven wegen der Kunst verliert. Kinder ohne Eltern (FSK 16) dürfen nicht rein, es gab bei der Perfomance ein Awareness-Team und vor der Ausstellungstür wird vor den Inhalten gewarnt. STERN PAID 39_23 Marina Abramović 14.37
Die Direktorin Schickedanz stellt außerdem klar: Das hier ist keine Familienausstellung, „das ist eine Fehlinterpretation“.
Die Ausstellung des Anstoßes heißt „Then I’ll huff and I’ll puff and I blow your house in“ – ein Zitat des Märchens „Die drei kleinen Schweinchen“, in dem ein Wolf versucht, in die Häuser von drei Schweinen einzudringen, um sie zu fressen. Am Ende stirbt er. Die Situation hier ist, dass der Wolf es ins Haus geschafft hat, aber alle erst mal nett miteinander reden.
Meerschweinchen überall – im Käfig und auf dem Teller
Endlich betreten wir die Ausstellung. Links auf einem Bildschirm laufen nackte Frauen mit Meerschweinchenmasken durch die Kirche. Es sind Aufnahmen der Eröffnungsperformance von Sophia Süßmilch. In der Mitte der Ausstellung baumelt ein großes Meerschweinchen von der Decke, darunter wuseln drei echte Meerschweinchen durch einen Käfig und an der Decke hängen Rezepte, wie man die Meerschweinchen am besten zubereitet.
„In dem komischen Gegenüber merken wir, was Moral in der Gesellschaft ist. Was ist angeboren, was wurde geschaffen“, sagt die Kuratorin Holms. Im Hintergrund klimpert eigens für die Ausstellung konzipierte Klaviermusik. Auf einem schwarzen Vorhang sind Sätze wie „Geschmorte Prostata vom Herrn Papa“ oder „Heiß geschmorte Hodensäcke“ angebracht.
Auf dem Stoff sind markante Sprüche angebracht.
© Mittendorff
Wir streifen weiter durch die ehemalige Kirche. Marius Keite hat bei all dem die Gabe, so zu wirken, als ginge ihn das alles gar nichts an. Leicht vornübergebeugt steht er in der Ausstellung, den Blick mal hier und mal da. Er nickt nicht einmal, während ihm erläutert wird, was er hier sieht. Oder eher: sehen muss?
„Haben Sie Fragen?“, will Museumsdirektorin Juliane Schickedanz wissen. „Ich will das erst einmal auf mich wirken lassen. Vielen Dank für die ausführliche Führung“, sagt er. Er spricht leise, für einen Fraktionsvorsitzenden zurückhaltend. Er ist ja auch nur ein Ehrenamtler.
Seine Pressemitteilung kam dagegen in bester Carsten-Linnemann-Manier daher. Darin stand unter anderem, dass die Performance von Sophia Süßmilch jeglichen Respekts vor menschlichen Werten und menschlicher Würde entbehre.
Awarenessteam, Triggerwarnungen, Altersbeschränkung
Offenbar hat die Ausstellung jetzt genug auf Keite gewirkt. Er will wissen, ob er es richtig verstanden hat, dass hier Kinder durch die Ausstellung geführt werden.
Hatten wir das nicht schon?
„Kinder unter 16 Jahre dürfen die Ausstellung nicht besuchen ohne Einwilligung der Eltern“, sagt die Museumsdirektorin. Schulklassen mit Kindern unter 16 kämen außerdem in keinem Fall rein.
Keite hakt nach: Die Schutzmechanismen, also das Awarenessteam bei der Performance zur Eröffnung, die FSK-Regeln, die Content-Notes: Ob das alles nicht ganz schön kurzfristig umgesetzt worden sei? Zu kurzfristig, meint er natürlich, erst nach der entstandenen Aufregung. STERN PAID 19_23 Karl Lagerfeld Ausstellung 10.21
„Hier gibt es nur Neuproduktionen, da werden Entscheidungen bis zum letzten Moment getroffen“, sagt die Museumsdirektorin.
Keite lässt nicht locker. „Haben sie Verständnis dafür, dass der Eindruck besteht, dass das alles ein bisschen spät gekommen ist?“
Sie habe Verständnis für jede Form von Austausch, sagt die Museumsdirektorin. „Kurzfristig heißt aber auch nicht, dass es nicht gemacht wurde.“
Eröffnungsperformance war ein voller Erfolg
Die Eröffnungsperformance sei außerdem ein voller Erfolg gewesen. 350 Menschen, zehn Minuten Standing Ovation. Die ganzen Maßnahmen, die ergriffen wurden, die hätte es gar nicht gebraucht, hätten viele Menschen gemeint, sagt die Museumsdirektorin Juliane Schickedanz.
Sie reden ganz wunderbar miteinander aneinander vorbei. „Schutz von Kindern und Jugendlichen ist für uns von besonderer Bedeutung. Es ist der Eindruck entstanden, dass es sehr kurzfristig war“, schließt Keite das Thema.
Warum dann aber dieser Frontalangriff auf die Kunstausstellung an sich? Die Kunst wollte er mit der Pressemitteilung gar nicht bewerten, sagt Keite.
Ärgerlich nur, dass in der Pressemitteilung steht, dass „groteske und verstörende Darstellungen“ gezeigt würden und die Ausstellung sofort geschlossen gehöre.
Einzelformulierung, sagt Keite, klar, über die könne man natürlich streiten.
Worum geht es der CDU wirklich?
Wir lassen den Ausstellungsraum hinter uns und betreten einen Raum, in dem normalerweise Kunstvermittlung stattfindet. Es geht natürlich längst nicht mehr um die Ausstellung von Sophia Süßmilch, sondern ums Ganze.
Der CDU wird nämlich längst unterstellt, es gar nicht so sehr auf die Ausstellung abgesehen zu haben, sondern auf die ganze Kunsthalle. Zu teuer, zu wenig Besucher, verschenkte öffentliche Räume.
„Unsere Zahlen sind sehr gut und stabil. Wir haben enorm viele Besucher auf den Veranstaltungen. Wir haben prozentual auf die Bevölkerung gesehen mehr Besucher als der Gropius Bau in Berlin“, hält die Museumsdirektorin Juliane Schickedanz dagegen. Wie viele es genau sind, weiß sie jetzt auf die Schnelle allerdings auch nicht.
Bessere Werbung als den Boykott-Aufruf hätte es für die Kunsthalle Osnabrück nicht geben können
Die Ausstellung von Sophia Süßmilch jedenfalls ist mit 100 bis 150 Menschen täglich besser besucht als erwartet. Die PR-Arbeit der CDU Osnabrück scheint nicht ohne Wirkung geblieben zu sein.
Marius Keite merkt an, dass man die Ausstellungsräume auch für kunstfremde Veranstaltungen nutzen könnte. Schickedanz sieht nicht so richtig begeistert aus. Es ist der alte Disput, Kunst gegen Kommerz.
Doch dann: plötzliche Annäherung! Hochzeiten, vielleicht zwei Mal im Jahr, ja, die könnte man hier doch feiern! Aber nur, wenn die Kunst drin stehen bleibt, verlangt die Museumsdirektorin.
Das Fazit des CDU-Politikers
„Sie erleben einen historischen Moment“, sagt Keite zu mir und ich befürchte, dass ich nun irgendwann einmal hier heiraten muss.
So geht die ungewollte Begegnung zu Ende. Die drei versprechen sich, im Austausch zu bleiben. Ein Happy End?
Der CDU-Politiker und ich gehen noch einmal zu dem Video der Performance von Sophia Süßmilch. Und während die Frauen mit Meerschweinchenköpfen dort auf dem Bildschirm herumtollen, formuliert Keite sein Fazit. „Ich würde es nicht empfehlen, hierher zu kommen“, sagt er.
Ich würde widersprechen.