Die Fußball-Welt ist verzückt von einem 16-Jährigen, der bei der EM durch Abwehrreihen tanzt, als gäbe es kein Morgen. Manche vergleichen Spaniens Lamine Yamal schon mit Jahrhundertspielern wie Pelé. Zu Recht?
Diejenigen, die ihn gesehen haben, greifen tief in die Kiste der Superlative. Wunderkind. Rohdiamant. Geschenk Gottes. Der neue Messi. Oder auch: einer wie Pelé.
Pele erschien mit 17 bei der WM 1958 erstmals auf der Weltbühne des Fußballs und zeigte Unglaubliches: Der Brasilianer schien mit der runden Kugel geradezu verwachsen. Der Ball nicht als zu kontrollierendes, widerspenstiges Objekt – sondern als logische Fortsetzung des menschlichen Körpers. Das Turnier wurde das Turnier von Pelé.
Wird diese Europameisterschaft die von Lamine Yamal, Spaniens jugendlichem Himmelsstürmer am rechten Flügel? Der wurde mit seinen 16 Jahren und 338 Tagen zum jüngsten Spieler der EM-Historie mit eigener Torbeteiligung, als er seinem Mannschaftskollegen Daniel Carvajal im ersten Gruppenspiel per Flanke das 3:0 gegen Kroatien auflegte. Carvajal spielte schon in der spanischen Nationalmannschaft, da wurde Yamal gerade mal eingeschult.
Einer, der dem Fußball seine Unberechenbarkeit zurückgibt
Jetzt mischt dieser Lamine Yamal die Fußballwelt auf. Einen wie ihn hat sie offenbar herbeigesehnt, der dem Fußball seine Unberechenbarkeit zurückgibt, seine bolzplatzhafte Frechheit. Dabei trägt Yamal noch Zahnspange. Die Schulaufgaben wurden ihm während des Turniers digital zugestellt und Journalisten fragten schon, ob mit seinen Einsätzen in Abendspielen nicht gegen das deutsche Jugendschutzgesetz verstoßen werde. Demnach dürfen Jugendliche unter 18 Jahren nicht nach 20 Uhr arbeiten.
Aber was heißt hier „Arbeit“? Ist es nicht eher Kunst, wenn er im Turbo-Speed mit dem Ball, der am Fuß zu kleben scheint, auf die gegnerischen Abwehrreihen losrennt? Oder die Lederkugel mit der Sohle zärtlich streichelt und so die abgezocktesten Defensiv-Haudegen im Stil eines Zinédine Zidane austanzt? Ein ehrfürchtiges Raunen ging manchmal durch die Arenen bei seinen besten Szenen. Zu besichtigen war: anstrengungslose Ballkunst, pures Talent in seiner reinsten Form.
Der Vater aus Marokko, die Mutter aus Äquatorialguinea, aufgewachsen in Mataro, einem Vorort von Barcelona. Als Vierjähriger sieht Yamal seinem Vater und seinem Cousin beim Fußballspielen zu, kickt mit und kennt anschließend nichts anderes mehr. Der Fußballplatz im Rocafonda-Park wird zu seinem Wohnzimmer.
Feinschliff in „La Masia“, der Aufzuchtstation für Fußball-Legenden
Die Talent-Scouts des großen FC Barcelona entdecken Yamal und lotsen ihn schon mit sieben Jahren in ihre Nachwuchsakademie „La Masia“, die schon Weltstars wie Messi, Xavi oder Iniesta hervorgebracht hat. Spanische Fußballschule: schnelles Kurzpass-Spiel auf engstem Raum, in kleinen Teams mit jeweils nur sieben Spielern, auf Mini-Tore, kein stupides Kraft- und Ausdauertraining. Geübt wird ausschließlich mit Ball – der ist schließlich der Mittelpunkt des Universums. Auf „La Masia“ erhält der Rohdiamant Lamine Yamal seinen ersten Feinschliff.
Mit 15 Jahren, noch ein halbes Kind, gibt er sein Debüt in der Erstliga-Mannschaft des FC Barcelona. Mit 16 trägt er das erste Mal das spanische Nationaltrikot. In seiner ersten kompletten Saison für den FC Barcelona wird Yamal auf Anhieb zum Stammspieler und bringt es sogar in der Champions-League auf zehn Einsätze.
Was macht ihn so stark? Yamal ist schnell, er wird gerne „steil“ angespielt, also durch Zuspiele in die Tiefe des Raumes auf die Reise geschickt. In wahnwitzig hohem Tempo kann er dann in seine gefürchteten Dribblings gehen und ganze Abwehrreihen von der Seite aufreißen. Durch seine enorme Geschwindigkeit ist er für Defensivspieler, die sich oft erst noch in seine Laufrichtung drehen müssen und dadurch wertvolle Sekunden verlieren, nur durch Fouls zu stoppen. Die wiederum provozieren Freistöße entlang des Strafraums.
Nur nach hinten arbeitet er nicht so gerne mit
Wie einst Arjen Robben zieht Yamal gerne von der rechten Außenbahn nach innen, um dann mit seinem starken linken Fuß den Torabschluss zu suchen. Er verfügt über ein gutes Gespür dafür, sich im Rücken seiner Gegenspieler unbemerkt abzusetzen und hat – siehe das Zusammenspiel mit Carvajal – eine gute Übersicht, was ihn zu einem guten Passspieler und Vorbereiter macht. Nur nach hinten arbeitet Yamal nicht so gerne mit – was ihm vom spanischen Nationaltrainer Luis de la Fuente gerne verziehen wird.
Mit Nico Williams, 21, auf der linken Seite bildet Yamal eine Flügelzange, die für jeden Gegner tödlich sein kann – die wohl beste dieses Turniers. Beide passen ideal zum neuen spanischen Spiel, das sich längst vom nervtötenden Tiki-Taka-Ballgeschiebe verabschiedet hat: Die beiden jungen Flügelstürmer geben ihm sowohl Breite als auch Tiefe, sie ziehen die gegnerischen Abwehrketten auseinander, öffnen so Räume und Schnittstellen. Und sie setzen die Defensivformationen mit ihren Tempoläufen unter permanenten Stress. Beide haben keine Lust, in Schönheit zu sterben. Sie suchen sofort und immer schnellstmöglich den Abschluss.
Ausstiegsklausel im Vertrag, Höhe: eine Milliarde Euro
Yamals Marktwert wurde vor der EM auf rund 90 Millionen Euro taxiert. Eine gewaltige Steigerung gegenüber den 25 Millionen, die noch im August 2023 für ihn angesetzt waren. Wenn diese EM wirklich sein Turnier wird, dürfte er noch teurer werden.
Noch bis zum Sommer 2026 ist er beim FC Barcelona unter Vertrag. Interessenten können aber gerne auch schon vorher anklopfen, unter bestimmten Bedingungen kann er früher wechseln. Der französische Meister Paris Saint-Germain hat angeblich gerade 250 Millionen Euro geboten. Immerhin steht im Kontrakt des Wunderkindes eine Ausstiegsklausel.
Das Problem ist allerdings deren Höhe: eine Milliarde Euro.