In Frankreich läuft die erste Runde der vorgezogenen Parlamentswahl, die die Rechtspopulisten vom Rassemblement National (RN) erstmals an die Regierung bringen könnte. Rund 49 Millionen Wählerinnen und Wähler sind aufgerufen, die Abgeordneten der Nationalversammlung neu zu bestimmen. Mit ersten Ergebnissen wird gegen 20.00 Uhr gerechnet. Aufgrund der Bedeutung des Urnengangs könnte die Wahlbeteiligung Rekordwerte erreichen.
In den französischen Überseegebieten hatte die Stimmabgabe wegen der Zeitverschiebung bereits am Samstagmittag (MESZ) begonnen. Im übrigen Frankreich öffneten die Wahllokale am Sonntag um 8.00 Uhr.
„Es sind keine einfachen Wahlen, die Ergebnisse sind sehr ungewiss, die Auswirkungen können für die Gesellschaft gravierend sein“, sagte der 38-jährige Julien Martin bei seiner Stimmabgabe in Bordeaux. Sie sei sehr besorgt und verstehe nicht, wie es so weit kommen konnte, sagte Amalia, die nach einer durchgefeierten Nacht sofort zur Stimmabgabe ins Wahllokal ging.
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hatte die Neuwahl überraschend nach der Wahlschlappe des Regierungslagers bei der Europawahl Anfang Juni ausgerufen. Seine Hoffnung, die Franzosen würden bei einer nationalen Wahl anders abstimmen als bei dem EU-weiten Urnengang, scheint sich den Umfragen zufolge nicht zu bestätigen.
Vielmehr könnte der Urnengang den Weg zur ersten rechtspopulistischen Regierung des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg ebnen. Es sieht sehr danach aus, dass das Regierungslager seine relative Mehrheit in der Nationalversammlung verliert. Bereits am Montagmittag empfängt Macron Premierminister Gabriel Attal und die übrigen Regierungsmitglieder im Pariser Elysée-Palast, um mit ihnen über die Folgen der Parlamentswahl zu sprechen.
In den Umfragen liegt der rechtspopulistische RN stabil und mit Abstand vorn: Die Partei könnte ihr gutes Ergebnis bei der Europawahl sogar noch leicht verbessern und kam zuletzt auf 34 bis 37 Prozent. Das links-grüne Wahlbündnis Neue Volksfront folgte in den Umfragen mit 27,5 bis 29 Prozent der Stimmen. Das Regierungslager von Präsident Emmanuel Macron ist mit 20,6 bis 21 Prozent weit abgeschlagen.
Nach manchen Umfragen hat der RN sogar Aussicht auf die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Dabei gibt es allerdings noch viele Variablen. Für eine absolute Mehrheit müsste die Partei – zusammen mit den Überläufern von den konservativen Republikanern – auf 289 der 577 Sitze kommen. Zuletzt hatte der RN lediglich 88 Abgeordnete.
Sollte der RN die absolute Mehrheit erreichen, könnte Macron gezwungen sein, mit den Rechtspopulisten eine politische Zwangsehe einzugehen und den 28 Jahre alten Parteichef Jordan Bardella zum Premierminister zu machen. Dies wiederum könnte der früheren RN-Parteichefin Marine Le Pen den Weg eben, 2027 Präsidentin zu werden.
Angesichts der Tragweite des Urnengangs ist damit zu rechnen, dass die Wahlbeteiligung Rekordwerte erreicht. Sie könnte bei mehr als zwei Dritteln liegen und damit deutlich höher als bei der ersten Runde der Parlamentswahl im Jahr 2022. Damals gaben 47,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme ab.
Laut französischem Innenministerium wurden mehr als 2,6 Millionen Vollmachten zur Stimmabgabe ausgestellt – viermal mehr als in einem in einem vergleichbaren Zeitraum vor zwei Jahren.
In den französischen Überseegebieten, wo die Wahl wegen der Zeitverschiebung am Samstag begann, zeichnete sich bereits eine deutlich höhere Wahlbeteiligung ab: In Neukaledonien lag die Beteiligung am Sonntagmittag (Ortszeit) bei 32,4 Prozent im Vergleich zu rund 13 Prozent vor zwei Jahren. Auch in Französisch-Polynesien betrug sie bis zum Mittag 18 Prozent – 2022 waren es zum gleichen Zeitpunkt 15,8 Prozent.
„Es steht viel auf dem Spiel“, sagte eine 21-jährige Wählerin auf der Karibikinsel Guadeloupe. In Neukaledonien sagte die Krankenschwester Cassandre Cazaux, die Wahl sei „entscheidend für das Land“.
Eine hohe Wahlbeteiligung auch auf dem französischen Festland dürfte dazu führen, dass mehrere Dutzend Kandidaten bereits in der ersten Runde gewählt werden. Vor der zweiten Runde am 7. Juli stellt sich dann die Frage, wie viele Kandidaten sich möglicherweise zurückziehen, um den Sieg eines RN-Kandidaten zu verhindern.
Ein Sieg der Rechtspopulisten bei der Parlamentswahl würde die größte Zäsur in Frankreich jüngerer Geschichte bedeuten. Die Partei hat manche früheren Positionen – etwa das Eintreten für den Austritt aus der EU oder das Ende deutsch-französischer Rüstungsprojekte – abgemildert. Sie ist aber mit einem europa- und ausländerfeindlichen Programm in den Wahlkampf gezogen, in dem sich erhebliche Konfliktpunkte mit Macrons bisherigem Kurs abzeichnen.