Kaum eine Woche vergeht ohne eine Forderung zum Bürgergeld. Nicht nur die Opposition will Verschärfungen oder Reformen, sondern auch manche Koalitionäre. Wie kann das sein? Und was macht wirklich Sinn?
Knapp eine Stunde lang hat sich die Abgeordnete der Grünen mit den wilden Haaren emsig Notizen gemacht. Nun blickt Beate Müller-Gemmeke zufrieden in die Runde und sagt: „Es tut gut, das Thema mal unaufgeregt und nicht hysterisch zu diskutieren.“ Was sie meint: das Bürgergeld. Auf Einladung der grünen Bundestagsfraktion finden sich Mitte Juni rund 30 Abgeordnete, Lokalpolitiker, Menschen aus der Praxis, zum „Ideenlabor“.
Das Bürgergeld ist umstritten, nicht aber in dem runden Raum mit der ockergelben Wand. Auf die Worte „härtere Sanktionen“, „niedrigere Leistungen“ oder „Faulheit“ wartet man hier vergeblich. Stattdessen werden Fragen einer anderen Unterstützung beim Spracherwerb und einer besseren Kinderbetreuung diskutiert. Insofern ist das, was sich im Sitzungssaal E300 im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags abspielt, eine Art Parallelwelt – vergleicht man es mit der öffentlich ausgetragenen politischen Debatte.
Da will die SPD einem „Bild“-Bericht zufolge Sanktionen verschärfen für die, die im Bürgergeld der Schwarzarbeit überführt werden. Da fordert der Finanzminister mehr „Anreize“ zur Arbeit und ein „Fairness-Update“. Und da spricht sich der Parlamentarische Geschäftsführer der Union dafür aus, an Geflüchtete aus der Ukraine kein Bürgergeld mehr zu zahlen, weil das „völlig falsche Anreize“ setze.
Bürgergeld: „fast schon automatisch eine Angriffsfläche“
Das Bürgergeld, der Nachfolger von Hartz IV, ist erst eineinhalb Jahre alt – doch es vergehen kaum Wochen, in welchen keine Reform oder gar die komplette Abschaffung gefordert wird. Es ist bei weitem nicht nur die Opposition, die mit Forderungen nach Verschärfungen der Bürgergeld-Regelungen auf sich aufmerksam macht, sondern auch FDP und SPD, die das Bürgergeld eingeführt haben. Wie kann das sein? Und wann ist endlich Ruhe?
Ein Anruf bei Anke Hassel. Die Professorin an der Hertie School of Governance beschäftigt sich schon lange mit dem Thema. „Mit der Einführung des Bürgergelds hat die Ampel der Union fast schon automatisch eine Angriffsfläche geboten“, sagt sie.
Was sie meint: Fragen der sozialen Sicherung sind in Wohlfahrtsstaaten immer umstritten. Es geht für Gesellschaften darum, eine Balance zwischen „Fördern und Fordern“ zu finden, die als richtig empfunden wird. Wie viel Unterstützung brauchen Arbeitslose? Wie viel müssen sie leisten? Wie hart sollte das eingefordert werden? „Konservative Parteien betonen im Gegensatz zu Parteien im linken Spektrum traditionell die Leistung, die Arbeitslose erbringen müssen, um wieder in Arbeit zu finden“, sagt Hassel.
Es war deshalb vielleicht fast schon zu erwarten, dass die Union gegen die Leistung, die einen neuen Umgang „auf Augenhöhe“ verspricht, vorgehen würde – auch wenn es natürlich stimmt, dass sie der Einführung des Bürgergelds im Bundesrat zustimmte (gleichwohl nur nach einem harten Kampf). Im März haben die Konservativen ihr Konzept einer „Neuen Grundsicherung“ vorgestellt, mit der sie das Bürgergeld wieder ablösen wollen – inklusive rascherer Sanktionen und einem niedrigeren Schonvermögen.
Bei der SPD mögen die Forderungen nach Verschärfungen zunächst etwas überraschender anmuten, schließlich war den Sozialdemokraten das Bürgergeld ein besonderes Anliegen. Es sollte auch dazu dienen, das Trauma zu überwinden, das die Partei und ihre Anhänger von der Einführung von Hartz IV davontrugen. Die harten Arbeitsmarktreformen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder lösten Anfang der Nullerjahre massive Sozialproteste aus.
SPD will den Fokus auf die „arbeitende Mitte“ legen
Dass die SPD nun trotz alldem Härte beim Bürgergeld demonstriert, dürfte auch daran liegen, dass in Zeiten knapper Kassen Verteilungsdebatten neu geführt werden, sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert hat und eine Mehrheit in Umfragen regelmäßig strengere Regeln beim Bürgergeld fordert. Beitragen dürfte auch die Losung der SPD, den Fokus stärker auf die „arbeitende Mitte“ zu legen. Das wurde zwar auch in der Vergangenheit schon häufiger formuliert, doch es scheint auch die Lehre aus der jüngst verlorenen Europawahl zu sein.
Jedenfalls will die SPD einem Bericht zufolge nun die Sanktionen für die verschärfen, die Bürgergeld beziehen aber nebenbei unangemeldet arbeiten, an der Staatskasse vorbei. Auch einen „Jobturbo“ hat Arbeitsminister Hubertus Heil gestartet, um ukrainische Geflüchtete schneller aus dem Bürgergeld in Arbeit zu bringen (nur zündet der bislang nicht richtig). Im vergangenen Jahr hat Heil außerdem die Sanktionen für die sogenannten „Totalverweigerer“ verschärft.
Es sind teilweise Schlagzeilen, die Handeln bis Härte demonstrieren sollen, auch wenn sie in der Praxis nur wenig bewirken dürften, geschweige denn größere finanzielle Einsparungen bringen, so sehen das die Experten. Im Fall der „Totalverweigerer“, da es sich dabei nur um einen sehr kleinen Teil der Bürgergeld-Bezieher handelt. Im Fall der Schwarzarbeit, weil das Problem vor allem daran liegt, die Fälle aufzudecken.
Es geht bei dem Thema aber nicht nur um die grundsätzliche Ausrichtung der Parteien und darum, wovon sie sich Wählerstimmen versprechen. Dass das Bürgergeld so kontrovers diskutiert wird und in der öffentlichen Debatte verfängt, hat auch damit zu tun, dass die Mittelschicht unter Druck ist.
„Die untere Mittelschicht hat zunehmend höhere Kosten, denken Sie an die Inflation oder das Wohnen“, sagt die Soziologin Hassel. In dem Zusammenhang lässt sich trefflich darüber streiten, ob der Abstand zwischen dem, was Bürgergeld-Empfänger beziehen, und dem, was Menschen mit kleinem Gehalt am Ende übrig haben, tatsächlich groß genug ist – auch wenn es so ist, dass die, die arbeiten, am Ende in so gut wie allen Fällen mehr haben als die, die nicht arbeiten. Welcher Abstand ist groß genug?
Weniger Bürgergeld-Bezieher nehmen eine Arbeit auf
Zusätzlich wurden jüngst Auswirkungen des Bürgergelds klar, die so nicht geplant waren. Zwar ist es nicht so, dass das Bürgergeld dazu führt, dass Menschen ihren Job kündigen. Doch zeigte eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dass das Bürgergeld dazu führt, dass weniger Bezieher eine Arbeit aufnehmen.
Wissenschaftler Enzo Weber, der die Studie durchgeführt hat, schlägt deshalb unter anderem vor, die Sanktionen schneller auf das vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Höchstmaß von 30 Prozent zu erhöhen. Außerdem sollten die Hinzuverdienstgrenzen im Bürgergeld erhöht werden, so Weber, wodurch Menschen, die im Bürgergeld-Bezug arbeiten, mehr Geld behalten dürften.
Doch dass die Koalition solch grundlegende Änderungen beim Bürgergeld ernsthaft angeht, ist unwahrscheinlich. Die Hinzuverdienstgrenzen zu erhöhen etwa ist politisch schon deshalb heikel, da dadurch erst einmal mehr Menschen Anspruch auf Bürgergeld haben, sich deren Zahl also erhöht. Ein solches Signal dürfte die Ampel in der aktuellen Lage nicht senden wollen.
Das Bürgergeld dürfte erst einmal ein Zankapfel bleiben.