Als sich die Wissenschaftlerin Elisa Perego 2020 nicht von ihrer Infektion erholte, warnte sie sie auf Twitter vor Langzeitfolgen bei Corona. Ihr Hashtag Long Covid ging um die Welt – und zeigt bis heute, was Patienten erreichen können, wenn sie ihr Leiden öffentlich machen.
Im späten Frühjahr 2020 tauchte er zum ersten Mal auf – der Hashtag #LongCovid. Erfunden hatte ihn die Italienerin Elisa Perego. Am 20. Mai twitterte die Wissenschaftlerin auf Englisch: #LongCovid #COVID19 wird allmählich auch in großen Zeitungen in Italien thematisiert 🇮🇹: ~20% der getesteten Patienten bleiben mindestens 40 Tage lang covid +.
Für sie war es damals der dritte Monat mit ihrer Krankheit. „Ende 2019 war ich in die Lombardei gefahren“, erzählt sie. In jene Gegend also, die kurz darauf zu einem der größten Corona-Epizentren außerhalb Chinas wurde. Die Welt zeigte sich schockiert angesichts der furchtbaren Bilder, die Kolonnen von Leichenwagen zeigten.
Die Wissenschaftlerin Elisa Perego (hier vor ihrer Erkranku machte schon früh auf die möglichen Langzeitfolgen einer Corona-Infektion aufmerksam. Der von ihr erdachte Hashtag LongCovid ging um die Welt und wird heute von den Medien, Ärztinnen und Politikern benutzt.
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Kurz vor Ausbruch der Pandemie hatte Elisa Perego in Wien gelebt, über ein Stidpendium war sie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gelandet, es sollte demnächst auslaufen. Sie brauchte zudem medizinische Untersuchungen. „Seit meiner Kindheit leide ich an chronischen Krankheiten, die sich phasenweise verschlimmern“, erzählt die Wissenschaftlerin.
Twitter als Sprachrohr der Vergessenen
Dann kam das Virus. Lange, bevor ein Impfstoff entwickelt worden war, infizierte sie sich. Perego kämpfte gegen die Erkrankung. Nicht nur ihre Lunge, sondern auch andere Organsysteme waren betroffen. Hilfe aber gab es damals kaum. Zu überlastet waren die Krankenhäuser in dieser ersten Welle der Pandemie.
Sie überlebte die Erkrankung, gesund aber wurde sie nicht mehr. Vor allem ihre Lunge, ihr Herz und ihr Gehirn zeigten auch lange nach der Infektion Symptome und Ausfallerscheinungen. Atemnot zum Beispiel, Schmerzen in der Brust und Veränderungen in ihren Blutgefäßen. „Ich habe sogar eine Arthritis entwickelt“, sagt sie, eine entzündliche Gelenkerkrankung.
Ihr Hastag #LongCovid wurde innerhalb weniger Wochen zum Inbegriff einer Erkrankung, die es offiziell noch nicht gab, an der aber jeden Tag mehr Menschen litten.
Wie viele andere nutzte sie damals Twitter als Sprachrohr, um auf die Folgen der Infektion aufmerksam zu machen. Ihr Hastag #LongCovid wurde innerhalb weniger Wochen zum Inbegriff einer Erkrankung, die es offiziell noch nicht gab, an der aber jeden Tag mehr Menschen litten.
Unerklärliche Schmerzen, Organschäden, massive Erschöpfung
Nachdem das SARS-CoV-2 Virus seine verheerende Reise um die Welt angetreten hatte, kümmerten sich Wissenschaft und Medizin zunächst vor allem um die Menschen mit akuten Verläufen. Dass aber schon mit den ersten Corona-Varianten rund zehn Prozent der Infizierten langanhaltende oder neu auftretende Beschwerden entwickelten, gelangte nur deshalb ins öffentliche Bewusstsein, weil Patienten lautstark auf ihr Leid aufmerksam machten.
Im WHO-China-Bericht vom Februar 2020 hieß es noch: „Die mittlere Zeit vom Ausbruch bis zur klinischen Genesung beträgt bei leichten Fällen etwa zwei Wochen und bei Patienten mit schwerer oder kritischer Erkrankung drei bis sechs Wochen.“
Doch schon im März begannen Patienten in den Sozialen Netzwerken davon zu berichten, dass sie etwas anderes erlebt hatten. Dort las man von unerklärlichen Schmerzen, Organschäden, massiver Erschöpfung oder einem „Gehirnnebel”, der das Denk- und Erinnerungsvermögen einschränkte. So erfuhr die Welt, dass Menschen mit weniger schweren Verläufen zwar nicht den Tod fürchten mussten, manchmal aber durch eine schier endlose Hölle gingen.
Zusammen mit Forschern wie Felicity Callard von der Universität Glasgow hat Perego in einer Studie nachgezeichnet, welchen Effekt diese Bewegung von Long-Covid-Patienten auf Wissenschaft und Politik hatte. In dem Paper “How and why patients made Long Covid” schreiben die Autoren, wie im April 2020 die ersten Zeitungen auf die Erfahrungsberichte von Betroffenen aufmerksam wurden und sie veröffentlichten.
Der Hashtag #LongCovid geht um die Welt
Am 5. Mai 2020 beschrieb der Infektiologe Paul Garner in einem Blogbeitrag, wie er seine zu diesem Zeitpunkt schon sieben Wochen andauernde „Achterbahnfahrt aus Krankheit, extremen Emotionen und völliger Erschöpfung“ erlebte. Sein Interview im britischen Guardian kurz darauf wurde in wenigen Wochen mehr als eine Million Mal gelesen.
Knapp zwei Wochen später begannen Betroffene, Peregos Hashtag #LongCOVID zu nutzen, um Belege für ihre anhaltenden Symptome zu sammeln und sich für mehr Forschung einzusetzen. Nicht nur auf Twitter wurde der Begriff millionenfach geteilt. Auch Selbsthilfegruppen wie „Long COVID Deutschland“ benannten sich danach.
Wissenschaftler und Mediziner wiederum konnten über die Online-Plattformen in Echtzeit mit Patienten kommunizieren. Informationen zu Krankheitsverläufen sickerten nicht tröpfchenweise ein in die Wissenschaftsgemeinde, sie waren zu Tausenden direkt im Twitter-Feed zu finden. Dieser Austausch führte schnell zu neuen Forschungsprojekten.
Auch Forscher nutzten die Sozialen Netzwerke
So publizierte schon im Mai 2020 ein patientengeführtes Forschungsteam eine Analyse zu andauernden Covid-19-Symptomen und listete mehr als 50 davon auf.
Auch das King´s College London sammelte Daten zu Covid-Symptomen, per App. Im Juni meldete die Studie, dass „eine von zehn Personen nach drei Wochen immer noch Symptome hat und manche sogar monatelang darunter leiden“. Der Hashtag #Covid1in10 ging um die Welt. Der Wissenschaftsjournalist Ed Yong veröffentlichte in dem US-Magazin „The Atlantic“ einen Artikel mit der Überschrift: „COVID-19 can last for several months“ ( „COVID-19 kann mehrere Monate dauern“). Darin beschrieb er Selbsthilfegruppen, die „Tausenden“ Betroffenen halfen.
Akiko Iwasaki, Professorin für Immunbiologie an der Yale School of Medicine, stieß bei Twitter auf eine Umfrage der „Survivor Corps“, einer Selbsthilfegruppe für Long-Covid-Betroffene. Darin hatten 40 Prozent der Befragten angegeben, dass sich ihre Symptome nach der ersten Impfstoffdosis gebessert hatten. Die Umfrage veranlasste Iwasaki, die Auswirkungen des Impfstoffs auf Long-Covid-Patienten zu untersuchen. In der Universitätszeitung von Yale sagte sie 2022: „Twitter war entscheidend für unsere Fähigkeit, schnell etwas über Long Covid zu erfahren, insbesondere aus der Sicht der Patienten“. Durch Tweets von Patienten habe sie erfahren, wie sich die Impfung auf Long Covid auswirkt.
Ein Sieg der Patienten
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den Hashtag gewürdigt. Im August 2020 traf sich Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus mit Covid-Patientengruppen: „Wir haben Ihr SOS erhalten“, sagte er. „Wir haben laut und deutlich gehört, dass Long Covid Anerkennung, Leitlinien, Forschung und kontinuierliche Beiträge und Erzählungen von Patienten braucht.“ Perego war bei diesem Treffen als Vertreterin Italiens geladen.
Im September 2020 definierte die „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ ICD-10 – eine Art offizielle Liste aller anerkannten Diagnosen – Long COVID schließlich als „post-COVID-19“. Es war ein klares Signal an die weltweiten Gesundheitsorganisationen, Menschen mit Long Covid anzuerkennen und medizinisch zu versorgen. In nur wenigen Monaten waren die Erfahrungen von Patienten über verschiedene Medien in offizielle klinische und politische Kanäle gelangt.
„Long Covid“, sagt Perego heute, „kann für sich in Anspruch nehmen, die erste Krankheit zu sein, die dadurch entstanden ist, dass sich Patienten über Twitter gefunden haben.“
Noch immer gibt es keine heilende Behandlung
Man mag sich fragen, wo wir heute ständen, wenn sich nicht schon so früh so viele Menschen dort Gehör verschafft hätten, wo sich auch Wissenschaftler und Ärzte finden: in den Sozialen Netzwerken.
„Ich denke, die Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion wären langsamer erkannt worden und vielleicht weniger genau gewesen“, sagt Perego. „So aber gehören Covid und Long COVID, heute zu den am besten untersuchten Krankheiten der Medizingeschichte.“ Und doch gibt es noch immer viel zu tun, schließlich weiß niemand genau tun, wie das Leiden entsteht. Dazu gibt keine einzige auch nur im Ansatz heilende Behandlung, auf Termine mit Spezialisten warten Betroffene oft Monate. Manche werden allen Erkenntnissen zum Trotz nicht ernst genommen, wenn sie in der Medizin Hilfe suchen. Auch deshalb sagt Perego: „Ich bin zu krank, um wieder richtig zu arbeiten. Aber ich versuche, weiterhin Studien über Long Covid zu veröffentlichen, um die Anerkennung der Krankheit weiter voranzutreiben.“
Der von den Patienten selbst gewählte Begriff „Long Covid“ wird inzwischen in der wissenschaftlichen Literatur sowie von politischen Entscheidungsträgern, Angehörigen der Gesundheitsberufe, den Medien und wichtigen Gesundheitsgremien verwendet.