Antonio Rüdiger und Jonathan Tah obliegt der Schutz des deutschen Tores. Zusammen mit Torwart Neuer bilden sie ein Bollwerk, das sich aufgemacht hat, bei der EM eine Nagelsmann-Aussage zu widerlegen.
Da staunte auch Antonio Rüdiger. „Oh, solange schon“, entfuhr es dem deutschen Abwehrchef, als er kurz nach dem 2:0 gegen Ungarn vom Fakt erfuhr, dass die Fußball-Nationalmannschaft erstmals seit der EM 2016 in Frankreich in einem Spiel bei einem großen Turnier ohne Gegentor geblieben war.
Den Hauptgrund benannte der 31 Jahre alte Innenverteidiger von Real Madrid auch gleich: „Ich denke, wir können uns bei Manuel Neuer bedanken – primär. Er hat einen sehr guten Job gemacht.“
In der Tat. Der 38 Jahre alte EM-Rekordtorwart, der vor dem Turnierstart im Verdacht stand, nicht mehr wie der Manuel Neuer der weltmeisterlichen Vergangenheit halten zu können, war in Stuttgart ein Garant des Zu-Null-Spiels. Aber nicht der Einzige. Denn die DFB-Elf hat in Antonio Rüdiger und Jonathan Tah auch zwei hünenhafte Athleten in der Abwehrmitte, die das eigene Tor rigoros beschützen. „Die Zusammenarbeit mit Jonathan passt“, sagte Rüdiger.
Neuer, Rüdiger, Tah wie 2014 Neuer, Boateng, Hummels?
Wer Titel gewinnen will, braucht – bei aller Offensivkraft mit Künstlern wie Jamal Musiala oder Florian Wirtz – zwingend eine stabile Defensive. Beim WM-Triumph 2014 in Brasilien bildete der damals 28-jährige Neuer mit Jérôme Boateng und Mats Hummels – flankiert von Philipp Lahm und Benedikt Höwedes – ein Abwehrbollwerk, an dem auch Finalgegner Argentinien mit Weltstar Lionel Messi abprallte.
Und zehn Jahre danach? Neuer, Rüdiger, Tah als kommendes Europameister-Trio? Das wäre schon eine erstaunliche Entwicklung, wenn man nur sieben Monate zurückdenkt. Da saß Julian Nagelsmann im tristen November nach dem 0:2 im Testspiel gegen Österreich in Wien und befand desillusioniert: „Wir werden auch im Sommer keine Verteidigungsmonster werden.“ Ein Irrtum? Das muss sich zeigen, erst am Sonntag (21.00 Uhr/ARD/MagentaTV) zum Vorrundenabschluss in Frankfurt gegen die Schweiz. Und dann in den K.o.-Runden.
Nagelsmann hat dazu beigetragen, seine Monster-These zu widerlegen, indem er sich im EM-Jahr frühzeitig auf Rüdiger und Tah als Innenverteidiger-Duo festlegte. Und Hummels nach den Erkenntnissen der Niederlagen gegen die Türkei und Österreich ausmusterte. Der Bundestrainer erkannte auch, dass in seinen EM-Rollenspielen ein Alphatier wie Hummels auf der Bank keine sinnhafte Teambuilding-Maßnahme für das Heimturnier gewesen wäre. Und auch in sportlicher Hinsicht wäre das extreme hohe Vorschieben der Abwehrkette mit Hummels kaum praktizierbar gewesen. Dafür fehlt dem 35-Jährigen das Tempo.
Rüdiger und Tah haben dagegen schnell zueinandergefunden. „Toni kenne ich lange. Wir verstehen uns persönlich sehr gut – auch auf dem Platz“, berichtete der 28-jährige Tah. Sie können Gegenspieler physisch bearbeiten, blocken, sind schnell und kopfballstark. Und beide stießen vollgepumpt mit Selbstvertrauen zum EM-Team: Rüdiger als spanischer Meister und Champions-League-Sieger, der Leverkusener Tah als deutscher Meister und DFB-Pokalsieger. „Ich bin hier mit der Gier, weiter erfolgreich zu sein“, sagte Tah.
Handicap: Gelbsperre im Achtelfinale droht
Rüdiger ist vom Bundestrainer zum Abwehrboss bestimmt worden. Er selbst versteht seine Rolle nicht als großer Redner auf dem Platz, sondern mehr als „emotionaler Leader“. Aber für Rüdiger ist Tah „auch ein Leader“. Der Leverkusener, früher in Länderspielen oft als tapsiger Tah beschrieben, spielt die mit Abstand beste Saison seiner Karriere, der FC Bayern will ihn dem neuen Rivalen Bayer 04 im Sommer unbedingt abkaufen. „Für mich ist er in Deutschland der beste Innenverteidiger“, sagte Rüdiger über Tah, freilich mit diesem Zusatz: „Also in der Bundesliga.“ Der Allerbeste ist schon noch er selbst, sollte das implizieren.
Gegen die Ungarn war allerdings Tah der noch Auffälligere. Mit einer spektakulären Fluggrätsche in der gegnerischen Hälfte leitete er das 1:0 von Musiala ein. Auch später gab es mehrmals Szenenapplaus für den Verteidiger, wenn er einen Gegner rasant stoppte, ablief oder Bälle klärte. „Es ist immer eine schöne Aktion als Verteidiger. Da hat man ja nicht so viele Jubelmomente, weil man nicht so viele Tore schießt“, sagte Tah zur Wertschätzung.
In die nächsten Spiele gehen Deutschlands neue Verteidigungsmonster freilich mit einem Handicap. Beide haben schon eine Gelbe Karte gesehen, Tah gegen Schottland, Rüdiger wegen Meckerns gegen Ungarn. Bei der nächsten Verwarnung folgt eine Sperre. Dann müssten der Stuttgarter Waldemar Anton als Back-up für Rüdiger oder der Dortmunder Nico Schlotterbeck als Back-up für Tah zeigen, dass auch sie monsterhaft verteidigen können.