Er ist wohl der charismatischste konservative Politiker der jüngeren britischen Geschichte, doch zuletzt war es still um den Populisten Boris Johnson. Nun wird er 60 – gibt es ein Comeback?
Die blonden Haare wie immer kunstvoll verwuschelt, unrasiertes Kinn, der Blick wirkt etwas verschlafen. Klar, das ist er: „Hallo Leute, Boris Johnson hier.“ In einem Videoclip wirbt der konservative Politiker vor der britischen Parlamentswahl am 4. Juli für seinen Parteikollegen Simon Clarke.
Ansonsten war im Wahlkampf nicht viel von Johnson zu sehen – obwohl seine Konservativen in Umfragen rund 20 Punkte hinter der Labour-Partei von Keir Starmer liegen. Es gibt viele Tory-Mitglieder, die den vermutlich besten Wahlkämpfer der Partei gerne viel prominenter einbinden würden als mit ein paar Handyvideos. Zumindest soll er nun der Zeitung „Telegraph“ zufolge seine Unterschrift unter einen Brief setzen, mit dem dazu aufgerufen werden sollen, die Tories zu wählen.
Heute wird der ehemalige Premierminister und Bürgermeister von London, der Populist und mehrfach der Lüge überführte Boris Johnson 60 Jahre alt.
Von großer Mehrheit zu Skandalen und Chaos
2019 noch hatte er die Konservativen zu einer überwältigenden Mehrheit von 80 Sitzen geführt. In der kommenden Wahl kandidiert Johnson nicht. Vor gut einem Jahr hatte er sein Mandat im Unterhaus niedergelegt und war damit einer Suspendierung – er hatte das Parlament belogen – zuvorgekommen.
Über seine Gründe, nicht zur Wahl anzutreten, lässt sich trefflich spekulieren. Es hat eher weniger damit zu tun, dass Johnsons Beliebtheit wegen seiner Skandale und dem Chaos, das er in der Regierung anrichtete, gesunken ist. Genügend Fans sind noch da.
Er sei eher damit beschäftigt, mit Reden viel Geld zu verdienen und sich seinen Buchprojekten zu widmen, heißt es da etwa. Andere vermuten, dass Johnson nicht mit dem desaströsen Wahlergebnis in Verbindung gebracht werden will, auf das die Tories zusteuern. Mehr noch: Er wolle seinen Intimfeind und Nach-Nachfolger Rishi Sunak hochkant scheitern lassen. Auch deshalb die Unterstützung für den ausgesprochenen Sunak-Kritiker Clarke.
Johnson sieht in dem amtierenden Premierminister, der unter ihm als Finanzminister diente, einen Verräter, der Schuld an seinem Ende in der Downing Street ist. Das hat Johnson nie konkret so gesagt, aber seine Verbündeten wie Ex-Kulturministerin Nadine Dorries lassen keinen Zweifel daran, dass er so denkt. Sunak, der angesichts katastrophaler Umfragewerte nicht wählerisch sein kann, frohlockte am Dienstag: „Es ist großartig, dass Boris die Konservative Partei unterstützt. Ich begrüße das sehr“. Das werde einen Unterschied machen, zeigte er sich sicher.
Der Lautsprecher war zuletzt überraschend still
Mit Ehefrau Carrie und den drei gemeinsamen Kindern – aus der ersten Ehe mit der Anwältin Marina Wheeler hat er vier erwachsene Kinder, eine Tochter im Teenager-Alter entstammt einer Affäre – lebt Johnson in einem denkmalgeschützten Anwesen in der Grafschaft Oxfordshire. Die 36-jährige Carrie Johnson entzückte mit süßen Tauffotos des jüngsten Sohns Frank bei Instagram die Boulevardmedien.
Vater Boris rief zuletzt Spott hervor, weil er bei den Lokalwahlen zunächst am Wahllokal abgewiesen wurde. Er hatte nicht wie vorgeschrieben einen Ausweis dabei – dabei hatte er das Gesetz einst selbst als Premier eingeführt. Ansonsten war es aber zuletzt überraschend still um den Lautsprecher.
Der Politologe Tim Bale aber ist sicher, dass Johnson nicht im politischen Schatten bleibt. „Ich gehe fest davon aus, dass er irgendwann versuchen wird, wieder ins Parlament einzuziehen, um erneut die Partei anzuführen und das Desaster, das er als Premierminister für das Land und die Partei repräsentiert hat, irgendwie wiedergutzumachen“, sagt der Experte von der Londoner Queen Mary University der Deutschen Presse-Agentur.
„Moralisch, charakterlich und intellektuell ungeeignet“
Was denn Johnsons größte Leistung in seiner Amtszeit sei? Für ihn und seine Anhänger sicherlich, den Brexit durchgezogen zu haben, egal, was es kostet, wie Bale sagt. Johnson, der damals als Außenminister zurücktrat, hatte sich vor dem Referendum 2016 zum Brexit-Sprachrohr aufgeschwungen. Dass er dabei ohne mit der Wimper zu zucken eher alternative Fakten zu den britischen EU-Zahlungen verbreitete, war ihm reichlich egal.
Und wie sieht der Politikwissenschaftler selbst Johnsons Beitrag? „Für mich besteht seine Leistung darin, so viele Kollegen und Wähler davon zu überzeugen, dass jemand, der moralisch, charakterlich und intellektuell so offensichtlich ungeeignet für das Amt des Premierministers ist, trotzdem den Posten bekommen sollte“, sagt Bale. Die heftige Antwort überrascht – und zeigt, wie emotional die Personalie Johnson in Großbritannien noch immer ist.