EM 2024: Und man nannte sie Wusiala

Sie tanzen, dribbeln, streicheln. Jamal Musiala und Florian Wirtz sind für die Unbekümmertheit im deutschen Spiel zuständig, ihre Irrsinnsläufe befeuern die Fantasien der Fanmeile. Schon werden große Vergleiche angelegt – damit aber tut man der Flügelzange keinen Gefallen.

Julian Nagelsmann musste kurz durchatmen. Schon wieder eine Sommermärchenfrage, die wievielte eigentlich? Und dann auch noch, der Sportjournalismus lebt vom ewigen Vergleich, von der Beschwörung der Nostalgie, eine solche. Ob Jamal Musiala und Florian Wirtz sowas seien wie die neuen Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger, mehr noch: Ob sie die Nation vielleicht im Alleingang durch das Turnier würden tragen können, wurde beim Bundestrainer gebohrt.

Puh.

Sie haben es heute, sagte Nagelsmann, der keine einzelnen Spieler hevorheben wollte und es aber natürlich trotzdem musste, sehr gut gemacht. 

Eine Untertreibung im Sinne der Erziehungspädagogik. Jetzt bloß nicht abheben, das war die doch recht eindeutige Botschaft. All die Zauberer da vorne, schob Nagelsmann eilig nach, brächten einem ja nichts, wenn sie nicht defensiv arbeiten.

Aber auch das hatten Musiala und Wirtz getan. Und auch das sehr gut. Elegant noch beim Gegenpressing, rasend schnell zurück in der Formation.

Musiala und Wirtz: Zauberer, aber keine Entertainer

Poldi und Schweini? Waren, man erinnere sich, Binnenstimmungskanonen gewesen, drollige Frechdächse, in deren frisch blondierten Grinsegesichtern sich die Republik, selbst längst der partypatriotischen Unbekümmertheit anheimgefallen, nur zu gerne spiegeln wollte. Und ja, Poldi und Schweini, über Jahre gefangen in der Verniedlichung dieser Spitznamen, machten auch wichtige Tore, standen oft richtig und rissen das Team mit. Eine kunstvolle Flügelzange wie Musiala und Wirtz aber waren sie nie.

Während an Musiala und Wirtz wiederum so gar nichts Entertainerhaftes abseits des Rasens ist. Zu schüchtern sind beide, um als verbale Einpeitscher für Schland infrage zu kommen, zu limitiert auch sprachlich. Was nicht schlimm ist, solange es ihnen nicht aufgebürdet wird. Solange sie nicht sein sollen, was sie nicht sind. Und bleiben dürfen, wer sie sein können. 

Kaum zu halten: Jamal Musiala und Florian Wirtz feiern das 1:0 durch den Leverkusener. Es ist ein Tor für die Geschichtsbücher.Auf der Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch in Herzogenaurach hatte man diese juvenile Sprachscham nochmal vorgeführt bekommen. Da saßen sie, ungelenk und auch ein bisschen überfordert von der Ernsthaftigkeit der Fragen. Musiala, den sie Bambi rufen, wie ein Reh im plötzlichen Aufblendlicht. Einsilbigkeit in der Trainingsjacke, Humor nur, wenn man trotzdem lacht. Die Komik allenfalls unfreiwillig. Sie haben, das wurde da schon und ist jetzt spätestens klar, den Schalk in den Füßen, nicht im Nacken.

Reicht das nicht?

Und man nennt sie schon Wusiala

Wirtz und Musiala, Musiala und Wirtz. Im Netz kursiert längst der Doppelspitzname Wusiala, was passenderweise nach Beschwörung klingt, schamanistischem Ritual, geheimnisvoller Formel. Nach dem Zauber also, den sie gegen die Schotten tatsächlich versprühten. Gestern haben die beiden das Versprechen, das sie seit langem sind, auch auf internationaler Bühne eingelöst. 

Wirtz, die Stutzen so weit unten wie der Körperschwerpunkt, mit dem ersten Tor und vielen Aktionen, die man in dieser Impulsivität eben nicht lernen kann. Mit einer fast schon obszönen Vorliebe für das Eins gegen Eins. Das Gedoppeltwerden nie als Anlass zum Abdrehen, sondern als Herausforderung und lustige Hatz. Kontrolliertes Chaos, Momentbeschwörungen, für Verteidiger nicht berechenbar. Für die eigenen Mitspieler übrigens manchmal auch nicht. Ein Straßenfußballer, der gar nicht auf der Straße gelernt hat. Und der Schuss, der Deutschland endlich ins Rollen brachte, dann logischerweise auch mit der Innenseite. Gestreichelt statt geprügelt. Ein Liebkosung, das schöne Spiel. Stimmungdoping für die Massen auch.

Zwei, die sich verstehen: Musiala und Wirtz beim DFB-Training in Herzogenaurach.
© Imago

Musiala wiederum mit seinen Tempodribblings nach Art eines Alberto Tomba, Skiläufer im Strafraum, die Verteidiger bloß Slalomstangen. Und die Beine immer noch dürr wie Zahnstocher, was aber nur dafür zu sorgen scheint, dass er nicht getroffen wird. Man sitzt, wenn dieser furiose Schlangenmensch an zwei, drei, vier, fünf Gegnern vorbeitanzt, ja wirklich ganz oft mit offenem Mund da. Hat es das in der Rasanz schon mal gegeben beim DFB? 

In Katar verzettelte sich Jamal Musiala noch oft

Zur Wahrheit gehört natürlich, dass Musiala auch in Katar schon viele solcher Irrsinnsläufe gehabt, aber damals nie zu Ende gebracht hatte. Dass er dort, leider wirklich, in Schönheit gestorben war. Und im Raunen der Menge immer auch die Verzweiflung mitklang, dass diese Soli ohne Veredelung bleiben sollten. Er also nicht nur sich, sondern auch die Zuschauer um Erinnerungen brachte. Das ist mittlerweile, beim FC Bayern und im Nationaltrikot, besser geworden. Die Tatsache, dass Musialas Tor gegen die Schotten wiederum einem Gewaltschuss unter die Latte entsprang, muss da als gute Pointe verbucht werden.

Es wird nun, mit der Euphorie dieses Sieges und der rauschhaften Kombinationen, für Musiala und Wirtz darum gehen, die Unbekümmertheit zu konservieren. Sich nicht zu belasten mit den ewigen Vergleichen, sich nicht erdrücken zu lassen von der Hoffnung der Fanmeilen. Als Bastian Schweinsteiger 2019 seine Karriere beendete, schrieb ihm sein alter Kumpel Poldi nochmal einen Liebesbrief in der BILD, darin der Satz: „Es war der Anfang einer Freundschaft, wie es sie im Fußball nur selten gibt.“

Musiala und Wirtz – das könnte der Anfang einer Flügelzange sein, wie es sie im Fußball nur selten gibt. Aber man tut gut daran, die Jungspunde nicht als Wiedergänger früherer Helden zu besingen, auch nicht als sowieso immer etwas abgeschmackt klingende Zweipunktnullvariante. Denn am besten sind Musiala und Wirtz, wenn sie einfach nur Musiala und Wirtz sein dürfen.