Die nahende Europameisterschaft lässt das Herz vieler Fußballfans schon jetzt höher schlagen. Aber warum sind wir ausgerechnet bei dem Sport so emotional? Wir haben zwei Experten gefragt.
Sie forschen schon seit vielen Jahren zum Thema Fußball, Herr Lange. Wie hat sich der Sport seitdem verändert?
Harald Lange: Das ganze Feld ist in Bewegung. Einerseits ist Fußball immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Andererseits beobachten wir in der Fankultur in den letzten Jahren eine ganz eigene Dynamik. Fußballfans werden selbstbewusster, kritischer und prozessfreudiger. Das zeigt nicht zuletzt der Fanprotest gegen neue Investoren in der Deutschen Bundesliga. Da ist es den Fans tatsächlich gelungen, den Prozess aufzuhalten.
Warum begeistert uns ausgerechnet dieser Sport so sehr?
Lange: Fußball an sich ist einerseits Kulturgut und andererseits Wirtschaftsfaktor. Das heißt, Fußball ist historisch gewachsen und wird heute von vielen Menschen mit großer Bedeutung aufgeladen. Man spielt entweder selbst Fußball, schickt seine Kinder dorthin oder trifft sich regelmäßig im Stadion oder vor dem Bildschirm zum Fußballgucken. Jeder kennt jemanden, der eine Verbindung zum Fußball hat, er sorgt für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und schafft eine Identität. Fußballfans investieren Zeit, Kraft und Emotionen in diese Leidenschaft. Und genau diese Bedeutungen machen das Produkt Fußball am Ende so wertvoll.
Serge Brand: Fußball verkörpert alles, was wir im praktischen Leben brauchen: Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Hoffnung auf ein gutes Ende, Einsatz für ein Ziel, Solidarität mit Gleichgesinnten, Umgang mit den Unwägbarkeiten des Schicksals, mentale Stärke und Besonnenheit, wenn die Situation schwierig ist, Umgang mit Menschen, die es nicht gut mit uns meinen und das Aushalten von Unfairness und Gemeinheiten. Nicht zu vergessen außerdem den Umgang mit überschwänglicher Freude und unverhofftem Glück.
Lange: Fußball ist außerdem ein einfacher Sport, bei dem jeder schnell mitreden kann. Elf Spieler auf jeder Seite, der Ball muss ins Tor des anderen und jedes Team versucht, das zu verhindern. Das ist das Grundprinzip, dem die Spieler auf dem Feld in einer überschaubaren Geschwindigkeit folgen. Streng genommen braucht man nicht einmal einen Fußballplatz, man kann überall kicken. Deshalb ist Fußball auch Volkssport.
Sie sind Psychotherapeut, Herr Brand, und erforschen seit vielen Jahren die psychologischen Faktoren der Fußballwelt. Was macht Fußball mit unserer Seele?
Brand: Beim Fußball erleben wir Gefühle der Angst und Verzweiflung sowie der ultimativen Zugehörigkeit. Wir lernen, uns abzugrenzen und uns gleichzeitig gegenseitig Trost zu spenden. Es kommt immer eine nächste Saison – also haben wir auch immer die Chance, etwas besser zu machen. Auf dem Platz, auf der Tribüne und im echten Leben.
Harald Lange ist Sportwissenschaftler und leitet die Abteilung „Fan- und Fußballforschung“ an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zu diesem Zweck hat er unter anderem das Institut „Vierzunull“ gegründet, das sich interdisziplinär mit dem Thema befasst.
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Fußball lehrt uns also auch etwas über das Leben?
Brand: Das Fansein ist durchaus sinnstiftend und gibt Orientierung im Alltag. Wir lernen dadurch, bestimmte Tugenden zu stärken: treu, mental stark und zuversichtlich zu bleiben, auch wenn es mit dem Fußball-Club mal den Bach runter geht. Die Fans von 1860 München oder von Leeds United oder dem FC Basel wissen, was ich meine.
Lange: Die Kernwerte im Fußball sind Solidarität, Fairplay, Gerechtigkeit und Wettkampf. Außerdem ist das feste Regelwerk wichtig und das Spiel sollte im besten Fall offen sein, das heißt, dass jede der Mannschaften grundsätzlich gewinnen kann. Der Fankult zeigt aber vor allem, dass wir Menschen emotionale Wesen sind. Wir sind von Gefühlen geprägt, leidenschaftlich orientiert und können uns, wenn wir wollen, voll und ganz auf eine Sache einlassen und alles andere um uns herum vergessen. Das heißt, wer emotional sehr an den Fußball gebunden ist, kann sich während eines Spiels komplett darin verlieren und 90 Minuten lang praktisch nichts im Außen erleben.
Während die einen es kaum noch abwarten können, bis die Europameisterschaft startet, haben andere mit Fußball so gar nichts am Hut. Was entscheidet darüber, ob wir Fußballfan werden?
Lange: Unser Umfeld beeinflusst maßgeblich, ob und in welchem Ausmaß wir Fußball feiern. Die Kommunikation mit Familie, Freunden oder den Kollegen über den Sport ist quasi der Motor für die Bindung an den Sport. Vor allem dann, wenn ich nicht selbst spiele, ist es wichtig, dass ich die Eindrücke mit anderen gemeinsam verarbeite und einordne.
Der Schweizer Psychotherapeut Serge Brand beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den psychologischen Auswirkungen von Fußball auf unsere Psyche. Er lehrt unter anderem an der Universität Basel im Fach „Sport und psychische Gesundheit“.
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Gibt es hier einen Unterschied zwischen Amateurfußball und Profisport?
Lange: Im Kern geht es immer um Identifikation und um das Erleben von Gemeinschaft, sowohl beim Profifußball als auch beim Amateurfußball. Im Amateurbereich geht es aber noch etwas mehr um Identität. Das sind die Spieler meiner Heimat, da kann ich Freunde und Bekannte treffen – es steigert den Lokalpatriotismus enorm. Im Vergleich: Im Profifußball kann jemand aus Bayern auch Dortmund-Fan sein und umgekehrt.
Was entscheidet im Profifußball, welchem Verein ich meine Energie widme?
Lange: Wenn Mama und Papa Bayern-Fan sind, heißt das nicht automatisch auch, dass ich Bayern im Stadion anfeuern werde. Es ist auch möglich, dass ich als Kind dann bewusst eine andere Mannschaft aussuche. Trotzdem gibt unsere Familie uns dahingehend Orientierung. In der Schulzeit legen deshalb viele von uns fest, ob sie Fußballfan werden und für welche Mannschaft ihr Herz schlägt. Spannend ist, dass sich das oft im Laufe des Lebens kaum noch ändert. Fußballfans sind also sehr treue Seelen.
Der Höhepunkt eines jeden Fußballspiels ist wohl der Torjubel – die Menschen liegen sich in den Armen, feiern, springen, vergießen Freudentränen. Sie haben diesen Moment mit dem sexuellen Orgasmus verglichen, Herr Brand. Ist das nicht etwas hochgegriffen?
Brand: Nun, wer schon mal in der Disziplin des sexuellen Höhepunkts praktische Erfahrungen gesammelt hat, weiß um deren Unwägbarkeiten: Stimmt die Stimmung? Kann ich mich körperlich und emotional mit dem Gegenüber synchronisieren? Denke ich zu viel oder zu wenig? Solche Unwägbarkeiten erlebt der Fußballfan ebenfalls: Der Trainer, der kurzfristig und ohne Not Spieler ein- und auswechselt und das Spiel noch fast verliert, der begnadete Stürmer, der wie eine Diva launisch rumkickt, der Gegner, der nach der Pause mit einer Dreierkette im Sturm aufwartet und die Verteidigung überrollt, und, und, und. Beides funktioniert also nach ähnlichen Prinzipien. Wie beim Sex der Höhepunkt ist der Torschuss beim Fußball etwas Erlösendes, der Moment ist befreiend und endet bei Spielern und Zuschauern in unbändiger Freude. Vor allem dann, wenn das Tor unverhofft kommt.
Apropos Spieler: Was macht der Jubel und der Support der Fans eigentlich mit den Spielern auf dem Platz?
Lange: Man spricht oft vom sogenannten Heimvorteil. Jeder Fußballer weiß, zuhause hat man es leichter – weil der Support durch die Fans und die bekannte Atmosphäre sich positiv auf die Spieler auswirken. Das ist auch wissenschaftlich bestätigt. Man kann also mit gutem Gefühl sagen, die Fans haben einen wesentlichen Einfluss auf den Erfolg eines Fußballteams.
Fußball vereint, unsere Gesellschaft aber driftet aktuell auseinander. Was erwarten Sie von der Europameisterschaft in diesem Jahr ?
Lange: Durch die mediale Präsenz, den Austausch auf Public Viewing-Events, in der Kneipe mit den Freunden oder auf der Arbeit mit den Kollegen sorgt die Europameisterschaft ganz automatisch für ein gesteigertes Wir-Gefühl. Ganz egal, wo man in diesem Sommer hinkommt, überall bekommt man die Gelegenheit, sich mit der Mannschaft zu identifizieren. Dieses Gemeinschaftsgefühl hat man ja auch während der Weltmeisterschaft 2006, dem Sommermärchen, spüren können. Wir alle waren stolz darauf, Deutscher zu sein und wollten gleichzeitig eine große Gastfreundschaft demonstrieren. Selbst die Niederlage gegen Italien haben wir vergleichsweise gut verkraftet – und uns nach einer kurzen Trauerphase auch für den verdienten Sieger gefreut. Italiener und Deutsche lagen sich in den Armen, ganz im Sinne des Sportsgeistes. Ich bin guter Dinge, dass wir in diesem Jahr ähnliche Szenen beobachten dürfen.