ZDF-Doku: „Ein Faschist will die Macht“ – wie Thüringen zum Testfall für Deutschland wird

Von wegen Frohe Pfingsten. Am Sonntagabend blickt das ZDF mit einer Dokumentation nach Thüringen – in das aktuell schwierigste Bundesland. Zuschauen lohnt.

Die Suche nach einem Begriff, der die politische Sondersituation Thüringens beschreibt, begann spätestens an jenem verrückten Februartag im Jahr 2020, an dem in Erfurt ein Ministerpräsident mit Stimmen der AfD gewählt wurde. Seitdem ist nur noch wenig normal in dem Land, das von einer Linke-geführten Minderheitsregierung bestenfalls notverwaltet wird, während sich die AfD immer extremer und selbstbewusster gebärdet. 

„Testfall Thüringen„: Mit diesem Begriff überschreiben die Journalisten Melanie Haack und Peter Kunz ihre Dokumentation, mit der sie die aktuelle Lage vor den Landtagswahlen am 1. September skizzieren. Der 20-minütige Film wird am Pfingstsonntagabend im ZDF ausgestrahlt, verbreitet aber keine Feiertagsstimmung. 

Ein Neonazi will Landrat werden

Die Erzählung kreist um Schleusingen. Die Kleinstadt im Thüringer Wald wurde schon in den Nullerjahren vom einheimischen Neonazi Tommy Frenck zur „national befreiten Zone“ erklärt. Zurzeit kandidiert der Mann wieder mal als Landrat; der örtliche Wahlausschuss hat ihn erneut zugelassen. Tommy Frenck IHK Zertifikat 1810

In Schleusingen zeigen sich auch jetzt wieder ganz praktisch die gesellschaftlichen Frontlinien, die in Berlin oft nur theoretisch diskutiert werden. Zu sehen sind auf der einen Seite die Demonstranten, die gemeinsam mit bekannten Rechtsextremisten gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft protestieren. Auf der anderen Seite porträtieren Haack und Kunz ein überparteiliches Bürgerbündnis, in dem sich die Reste des kleinstädtischen Bürgertums zusammengetan haben. 

Dazwischen steht ein ratlos wirkender Bürgermeister, der sich lieber gleich selbst für überfordert erklärt. „Die Flughöhe der Politik ist eine ganze andere als die der Bürger vor Ort“, sagt er. „Die stehen ja nicht beim Habeck in Berlin. Die Leute stehen bei uns im Rathaus. Und wir können es denen nicht erklären.“

Mehr als vier Jahre nach dem Fall Kemmerich greift Björn Höcke nach der Macht

Was die Dokumentation von ähnlich gelagerten Produktionen unterscheidet: Haack weiß genau, von was sie berichtet. Sie lebt mit ihrer Familie in Thüringen. Ihren Einstieg als Leiterin des Erfurter ZDF-Studios gab sie, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich gerade dank der AfD in die Thüringer Staatskanzlei eingezogen war.

Jetzt, mehr als vier Jahre später, spricht Haack in dem Film das aus, was nach der nächsten Landtagswahl im Extremfall möglich ist: „Rauskommen könnte, dass Björn Höcke Thüringen regiert“. Und sie sagt über den Thüringer AfD-Vorsitzenden einen Satz, der wohl in dieser Deutlichkeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch nicht zu hören war: „Ein Faschist will die Macht.“ STERN PAID 19_24 Titel Krah IV_0.01

Natürlich, noch handelt es sich um Wille und Vorstellung – und nicht um Realität. Die Umfragewerte der Thüringer AfD sind zuletzt wieder etwas gesunken. Mit aktuell 30 Prozent ist Höckes Partei zehn bis 15 Punkte von einer Sitzmehrheit entfernt, was unter anderem an der neuen Konkurrenz durch die Partei von Sahra Wagenknecht liegt. 

Höckes Remigrationspläne

Gleichwohl nehmen Haack und Kunz die Bedrohung ernst. So zeigen sie Höcke, wie er auf einer AfD-Veranstaltung erklärt, dass „die Zahl der illegalen Migranten um einige Millionen reduziert“ werden könnte – wobei, wie er wissen muss, die Zahl der abschiebepflichtigen Asylbewerber in Deutschland nur bei etwa 250.000 liegt. 

Zudem belegt der Film implizit, dass die Pläne für eine sogenannte Remigration, die im vergangenen Winter die Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus auslösten, keineswegs neu sind. „Wir werden ohne Probleme auch mit 20, 30 Prozent wenige Menschen in Deutschland leben können“, sagt Höcke. „Das ist ökologisch sogar sinnvoll.“

Dennoch, es ist längst nicht nur die AfD, die für die prekäre Lage in Thüringen als verantwortlich gelten muss. Auch Angela Merkel bekommt deshalb ihren Auftritt im Film. Gezeigt wird, wie sie im Februar 2020 im südafrikanischen Pretoria steht und erklärt, dass die Wahl Kemmerichs „wieder rückgängig gemacht“ werden müsse. Haack fasst den vom Bundesverfassungsgericht gerügten Vorgang so zusammen: „Eine Kanzlerin auf Auslandsreise will eine verfassungsgemäße Wahl ungeschehen machen.“

Ein differenziertes Bild der Lage in Thüringen

Dann wird Stefan Kramer eingeblendet. Der Präsident des Erfurter Landesamts für Verfassungsschutz sagt: „Das hängt uns in Thüringen bis heute ganz furchtbar nach.“ Das Vertrauen in die Demokratie habe durch die damaligen Ereignisse schwer gelitten.

Mit all dem leistet die Dokumentation das, woran viele Betrachtungen Thüringens und auch Ostdeutschlands scheitern: Sie zeichnet ein differenziertes Bild und lässt Interpretationsräume offen. Dass Höcke ein Fixpunkt des Films ist, wirkt erwartbar, ist aber zwingend. Denn ohne ihn lässt sich nun mal kaum erklären, wie Thüringen zum Testfall für diese Republik werden konnte.

„Testfall Thüringen – Demokratie in Gefahr?“; ZDF, 19. Mai 2024, 19.10 Uhr (ab 16 Uhr in der ZDF-Mediathek abrufbar)