Model-Casting: GNTM wollte diverser werden? Die Show ist so subjektiv und unfair wie eh und je

Heidi Klum hatte die diverseste Topmodel-Staffel aller Zeiten versprochen. Kurz vorm GNTM-Finale sind im Wettbewerb noch ein paar schöne junge Menschen übrig – die brav in Männer und Frauen unterschieden werden. 

Eine Lehrstunde in Sachen Diversitität muss noch sein in dieser Folge. Die Zwillinge Luka und Julian, die es gemeinsam mit nur minimal unterschiedlichen Frisuren ins Finale schaffen wollen, mosern, weil ihnen für den Catwalk-Auftritt künstliche Wimpern aufgeklebt werden und sie in Highheels schlüpfen sollen. Letzteres ist für sie angeblich aus gesundheitlichen Gründen problematisch. „Die Twins wollen immer sehr männlich aussehen“, kommentiert Kandidat Linus. „Sie haben wohl Angst, mit Lashes zu feminin zu wirken.“ Ihm sei das unverständlich – „schließlich kommt es darauf an, wer man innendrin ist.“ Linus fasst sich mit der Hand ans Herz, ihm ist es ernst mit seinen inneren Werten. Die Botschaft ans TV-Publikum: Hey, spring auch du mal über deinen Schatten, wirf deine überholten Gender-Stereotype über Bord – wir sind hier schließlich in der diversesten Topmodel-Staffel aller Zeiten! 

So wurde die Sendung jedenfalls von Prosieben deklariert, als bekannt wurde, dass in diesem Jahr auch Männer um die Modelkrone kämpfen dürfen. GNTM trat mit dem neuen Konzept auch gegen die ewige Kritik an der Sendung an: zu klischeehaft, zu hinterhältig, zu wenig am echten Modebusiness interessiert, hieß es in den vergangenen Jahren wieder und wieder. Auch die normschönen Beautyideale wurden problematisiert. Zuletzt sorgte Ende 2023 eine Funk-Doku mit dem Titel „Druck, Hass, Manipulation“ für Furore, in der mehrere prominente Ex-Kandidatinnen die harten Drehbedingungen und unfairen Darstellungen in der Show anprangerten.

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Bei GNTM gibt es weiterhin nur zwei Geschlechter

Heidi Klum reagierte, das muss man ihr lassen, mit einem lässigen Coup: Sie ließ für die neue Staffel aufwendig einen Cast mit Models verschiedener Körpertypen, Geschlechter, Altersgruppen und Hautfarben zusammenstellen – und weichte sogar das „Es kann nur eine geben“-Prinzip auf: Im Finale werden in diesem Jahr zwei Topmodels gekürt. „Der Beste“ der Männer und „die Beste“ der Frauen kommen aufs Cover der Modezeitschrift „Harper’s Bazaar“. Ob die Aufteilung in zwei Geschlechterkategorien wirklich inklusiv ist, sei in Frage gestellt, doch ansonsten konnten auf der Teilnehmerliste beim Diversity-Check so viele Häkchen wie noch nie gesetzt werden: Tätowierungen, Plussize, Dragqueen? Check, check, check. GNTM sollte nichts mehr mit dem angestaubten Modelwettbewerb zu tun haben, bei dem junge Mädchen mit Maßbändern vor TV-Kameras gedemütigt werden, sondern zur Vorzeige-Show für vielfältige Rollenbilder im deutschen TV werden. 

Die diesjährigen GNTM-Plakate unterscheiden akkurat zwischen Männer- und Frauenmodels
© Collage: stern; Fotos: Rankin / ProSieben

Das bedeutet auch: In dieser Staffel wird die persönliche Reise der Kandidaten noch mehr als früher als showtreibendes Moment inszeniert. Hier sagt niemand mehr: „Ich will Topmodel werden, weil ich gern nach Paris reisen möchte“, es heißt jetzt: „Ich will der Welt zeigen, wer ich bin“. Erfolg hat, wem es gelingt, das zu zeigen – und dabei trotzdem relatable zu bleiben. Wer will „es“, also das Model-Dasein, am meisten? Wer kann wochenlang kämpfen und behält dabei trotzdem noch gute Laune? In diesem Zusammenhang bestätigt die Show zumindest die Theorie aus der Arbeitswelt, nach der gemischte Teams besser funktionieren als sehr homogene Gruppen – so wenig Streit und Mobbing wie in dieser Staffel gab es bei „GNTM“ noch nie. 

Ein diverser Cast, so viel Lob für alle („du bist ganz, ganz toll“), dass man hinter jedem Catwalk die HR-Achtsamkeits-Beauftragte vermutet, und vorm Finale das Kandidaten-Fazit „Wir verstehen uns eigentlich alle gut“:  Auf dem Papier hat Heidi Klum vieles richtig gemacht. Ist sie damit weiter als das „echte“ Modelbusiness, in dem zwar hin und wieder eine Plus-Size-Beauty auf den Laufsteg geschickt wird, das sich aber immer noch hartnäckig an die 90-60-90-Devise hält? 

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Diversität als Hebel zu mehr Vermarktbarkeit

Naja – mit der Diversität ist es so eine Sache. Je dicker man sich das Prädikat aufklebt, desto strenger muss man sich daran messen lassen. Fakt ist: Bei GNTM wird immer noch das Aussehen und Auftreten erwachsener Menschen gnadenlos be- und abgewertet. Im Fernsehen, vor einem Millionen-Publikum. Ja, es ist hilfreich, dass der Begriff dessen, was als schön gilt, in der Sendung inzwischen weiter gefasst ist als noch vor ein paar Jahren. Dennoch steht hier das Aussehen, der „Look“, im Zentrum allen Denkens, wie seit 19 Staffeln. Diversität wird nicht zur Selbstverständlichkeit, sondern dient vor allem der Zusammenstellung einer möglichst großen Auswahl von vermarktbaren Identitäten. Ein bisschen nach dem Motto: „Für jeden was dabei.“ Schließlich geht es immer noch darum, am Ende herauszukristallisieren, welche Kandidaten auf dem Werbemarkt die vielversprechendste Zukunft haben könnten. 

GNTM bleibt ein Wettbewerb, in dem von Persönlichkeiten gefaselt wird, aber nur Äußerlichkeiten bewertet werden. Das ist den Teilnehmern klar, das ist dem Publikum klar. Nur die Show tut so, als schaffe man ein inklusives TV-Utopia, in dem vermeintlich alle ihren Platz haben. Diversität wird als Wohlfühl-Larifari interpretiert, als fixe Idee, die immer nur bis zur nächsten Entscheidung tragen muss. Denn spätestens, wenn wieder ein hoffnungsvoller junger Mensch rausfliegt und in den eiskalten Influencer-Wettkampf der Ex-Reality-Show-Kandidaten entlassen wird, ist klar: Die Show ist genauso subjektiv und unfair wie eh und je.