J. Peirano: Der geheime Code der Liebe: Meine Freunde nutzen mich als Beraterin, aber um mich kümmert sich keiner

Isabelle F. fühlt sich wie ein Sorgentelefon für ihre Freunde. Egal ob es um Liebesthemen oder mentale Probleme geht – keiner von ihnen fragt je nach ihrem Befinden. Julia Peirano gibt ihr überraschende Tipps.

Liebe Frau Peirano, 

ich habe einen überschaubaren Freundeskreis von 4 bis 5 Leuten, keine große Clique, aber diese Freundschaften bestehen schon seit Jahren, manche seit dem Kindergarten.

Ein paar dieser Freunde sind aus beruflichen oder privaten Gründen aus unserer Heimatstadt weggezogen, sodass man sich nicht mehr regelmäßig sehen kann und ein Austausch überwiegend per Telefon oder WhatsApp stattfindet. Was an sich auch kein Problem darstellt, jedoch habe ich vermehrt das Gefühl, dass sich die meisten meiner Freunde nur noch an mich wenden, wenn sie Probleme oder Sorgen haben.

Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Mein bester Freund, der zwei Stunden von mir entfernt wohnt, hat sich während der Corona-Zeit immer mehr von mir entfremdet und fast gar nicht mehr von sich aus gemeldet. Anfang vergangenen Jahres kam es zur Trennung von seiner langjährigen Freundin, und er hat mich um Hilfe und Unterstützung gebeten. Durch diese Situation kamen wir wieder in engeren Kontakt. Wir haben stundenlang telefoniert und das wöchentlich. Er kam öfter in die Heimat, und ich habe mir natürlich so viel Zeit wie möglich für ihn freigehalten. 

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Er schien wieder aufzublühen, und seine Trennung wirkte für ihn wie eine Entlastung. Dann ging seine Datingphase los und er hat sich weiterhin regelmäßig Tipps bei mir geholt. Seit diesem Jahr läuft der Kontakt seinerseits wieder vermehrt aus. Melden tut er sich meist nur, wenn er etwas zu berichten hat, die Gespräche werden von ihm dominiert und wenig Interesse oder Gegenfragen in meine Richtung gestellt. 

Eine andere Freundin hat mentale Probleme, bei denen ich auch jederzeit versuche, ihr zur Seite zu stehen. Doch oft hat sie Phasen, in denen sie sich gar nicht mehr bei mir meldet und wenn wir Kontakt haben, darf es gefühlt nur um sie gehen. Ich habe den Eindruck, dass sie sich wieder abschottet, sobald ich mir erlaube, auch mal was von mir zu erzählen. Vielleicht, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Jedoch fällt es mir mittlerweile schwer, damit umzugehen.

Momentan fühle ich mich von den vielen Sorgen meiner Freunde ausgelaugt und durch das wenige Interesse, das mir entgegengebracht wird, auch ausgenutzt. Ich versuche schon gar nicht mehr, über Dinge zu sprechen, die mich belasten, weil ich sowieso davon ausgehe, dass es niemanden wirklich interessiert.

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Ich frage mich oft, wodurch sich diese Freundschaften so verändert haben. Ob ich mich selber im Laufe der Zeit zu sehr verändert habe. Es belastet mich, dass ich ansonsten sehr selten kontaktiert werde und meistens die Initiative ergreifen muss. Ich fühle mich nicht als wichtiger Bestandteil im Leben meiner Freunde oder eben nur, wenn sie Sorgen haben. Ich bin ein sehr harmoniebedürftiger Mensch und diese Freundschaften sind mir sehr wichtig, aber mit der Situation kann ich nur noch schwer umgehen. Zumal die Themen, über die man spricht, immer häufiger überwiegend negativ sind.

Was kann ich tun, damit sich etwas ändert? Ich möchte niemanden vor den Kopf stoßen, bisher habe ich mich nicht getraut, meine Empfindungen anzusprechen. 

Viele Grüße und danke
Isabelle F.

Bio Julia Peirano

Liebe Isabelle F.,

ich kann gut verstehen, dass Sie sich ausgenutzt fühlen. Sie investieren viel Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit in die Sorgen und Probleme Ihrer Freunde, aber um Sie und Ihr Wohlbefinden kümmert sich keiner. Darüber hinaus klingt es so, als seien viele Kontakte nicht sehr nährend, weil es sozusagen Kontakte aus dritter Hand sind.

Erster Hand bedeutet: Sie treffen einen Menschen und erleben gemeinsam etwas (z.B. spazieren gehen, Sport machen, tanzen).

Zweiter Hand bedeutet: Sie telefonieren oder machen einen Video-Call, aber dabei geht es um die gemeinsame Beziehung und einen Austausch, der beiden guttut.

Dritter Hand bedeutet: Es sind „nur“ Sprachnachrichten oder Telefonate, in denen es um Erlebnisse Ihrer Freunde mit anderen Personen oder deren Problemen geht und Sie nichts gemeinsam erleben, das Ihre gemeinsame Beziehung pflegt.

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Es ist gut, dass Sie sich das mal so genau anschauen und Ihre Unzufriedenheit und Enttäuschung mit der Situation spüren. Vielleicht ist da auch Traurigkeit, Einsamkeit oder Ärger in dem Gefühlsgemisch? Lassen Sie sich auf jeden Fall Zeit, das alles in sich wahrzunehmen und dem Raum zu geben, zum Beispiel indem Sie es aufschreiben oder sich selbst Sprachnachrichten schicken und mal Ihre Empörung ausdrücken. Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine wirklich aufmerksame Freundin, die auch Isabelle F. heißt (nämlich Sie selbst), und der erzählen oder schreiben Sie, wie Sie sich in Ihren Freundschaften fühlen. 

Diese gute Freundin, Isabelle F., antwortet Ihnen auch, so wie es sich für eine gute Freundin gehört, und nimmt es sehr ernst, dass Sie immer kraftloser und enttäuschter werden, weil Ihre eigenen Wünsche nach Kontakt und Begegnung viel zu kurz kommen. Diese Isabelle F. versteht Sie, fühlt mit Ihnen, ärgert sich mit Ihnen und gibt vielleicht auch ein paar Ratschläge, wie Sie die Situation verändern können. Zum Beispiel, indem Sie mehr Kontakte „erster Hand“ planen.

Diese Technik nennt sich „Selbstmitgefühl entwickeln“ und ist ein wesentlicher Bestandteil einer Therapie. Wir alle brauchen das Gefühl, dass wir uns selbst lieben, so, wie ein guter Elternteil oder eine Freundin einen lieben sollte. Dazu gehört, dass wir uns für uns selbst interessieren, uns zuhören, unsere eigenen Interessen beachten und in den Mittelpunkt stellen und versuchen, uns zum Wachsen zu bringen.

Ein aus meiner Sicht wunderschönes Buch über Liebe (und zwar nicht nur romantische Liebe, sondern Liebe gegenüber allen Menschen) ist:

Bell Hooks: Alles über Liebe. Neue Sichtweisen.

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Ich würde, ausgehend von Ihren Sprachmemos und Tagebuch-Einträgen, einmal aufschreiben, was für Erwartungen an eine Freundschaft Sie haben. Wie möchten Sie behandelt werden? Welche Erwartungen stellen Sie an eine sehr enge Freundschaft, welche an eine eher lockere Freundschaft?

Zum Beispiel: Freunde sollten sich gegenseitig Interesse, Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringen. Freunde sollten sich regelmäßig (wie oft?) melden und nachfragen, wie es dem anderen geht. Sie sollten interessiert zuhören und versuchen, den anderen zu unterstützen und voranzubringen.

Wenn Sie mit der Liste fertig sind, könnten Sie einmal einordnen, wo Sie Ihre jetzigen Bekanntschaften sehen. Passt das Etikett „Freundschaft“ noch zu dem, was seit Jahren passiert? Oder wäre ein anderes Label passender, z.B. „kostenloser „Rund-um-die Uhr“-Beratungsdienst oder „sozialpädagogische Unterstützung und Krisenintervention“?

Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass Ihre Kontakte keine Freundschaften sind, wie Sie sie sich vorstellen, könnten Sie mit den betreffenden Personen sprechen und mal erzählen, was Sie eigentlich möchten, erwarten oder brauchen und fragen, ob Ihr Gegenüber bereit ist, Ihnen ein Freund oder eine Freundin zu sein. Noch wichtiger als das, was jemand sagt, ist natürlich, wie jemand handelt. Reden kann man bekanntlich viel, wenn der Tag lang ist.

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Sowohl Ihre Freundin mit mentalen Problemen als auch Ihr Freund mit Liebesproblemen zeigen sogenannte Red Flags (Rote Warnflaggen), indem sie nicht selbst dafür sorgen, dass die Beziehung ausgeglichen ist.

Niemand kann andere Leute dazu zwingen oder bringen, Interesse zu zeigen und sich zu kümmern. So etwas kann man nicht einfordern, bzw. es fühlt sich dann auch nicht gut an, wenn ich meiner Freundin sage, dass sie mir mal zuhören soll und sie es dann nur tut, weil ich es ihr gesagt habe. 

Ich würde Ihnen empfehlen, sich aufmerksam und ehrlich anzuschauen, wie andere Menschen Sie behandeln und wie Sie sich dabei fühlen. Und dann können Sie auswählen, mit wem Sie befreundet sein wollen.

Meine Katze geht so vor: Es gibt Menschen, die entweder zu plump oder direkt sind für den erlesenen Geschmack meiner Katze, und andere Menschen, die ihr nicht genug Aufmerksamkeit entgegenbringen. Um diese Leute macht sie einen großen Bogen. Aber sie liebt manche Freunde von mir, die einen guten Kontakt zu ihr herstellen, sie freundlich ansprechen und erst dann streicheln, wenn sie es „erlaubt“. Wenn diese Freunde zu Besuch sind, sucht die Katze die ganze Zeit ihre Nähe.

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Machen Sie es doch auch so: Schauen Sie mal, wer Sie mag und sich aufrichtig für Sie interessiert. Wer kümmert sich darum, dass es Ihnen (und natürlich der gemeinsamen Beziehung) gut geht? Wer gibt etwas zurück, was Ihnen gefällt?

Wahrscheinlich ergibt es mehr Sinn, sich neue Freunde zu suchen als zu versuchen, Menschen zu verändern, die sich über lange Zeit daran gewöhnt haben, Sie als kostenloses Sorgentelefon zu missbrauchen und niemals auf den Gedanken gekommen sind, wie es Ihnen dabei geht.

Vielleicht finden Sie ja neue, positivere Bekanntschaften über ein gemeinsames Hobby oder ein gemeinsames Engagement für Werte wie z.B. Umweltschutz, Meditation, Chorsingen etc. Hier sind wieder „Erste Hand“-Kontakte in Sicht, was natürlich viel befriedigender ist als Telefonate oder Sprachnachrichten.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich für sich und Ihre (berechtigten) Interessen einsetzen können und sich Freunde suchen, die Sie stärken und Ihnen guttun.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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