Tabu-Bruch in Frankreich: Nach der Ansetzung von Neuwahlen hat sich erstmals ein Vorsitzender einer traditionellen Partei des Landes für ein Bündnis mit den erstarkten Rechtspopulisten des Rassemblement National (RN) ausgesprochen. „Wir brauchen ein Bündnis mit dem RN und seinen Kandidaten, wobei wir wir selbst bleiben müssen“, sagte der Vorsitzende der konservativen Republikaner, Eric Ciotti, am Dienstag dem Fernsehsender TF1. Präsident Emmanuel Macron schloss derweil einen Rücktritt im Fall eines Sieges der Rechtspopulisten bei der von ihm angesetzten Neuwahl aus.
Macron hatte die Neuwahlen zur Nationalversammlung nach dem triumphalen Wahlsieg des RN und der krachenden Niederlage der ihn unterstützenden Liste bei der Europawahl am Sonntag ausgerufen. Die Termine wurden von ihm sehr knapp gesetzt, der Urnengang soll am 30. Juni und 7. Juli stattfinden.
Bei nationalen Parlamentswahlen werden die Abgeordneten in Frankreich nach einem Mehrheitswahlrecht mit zwei Durchgängen ausgewählt: Holt in einem Wahlkreis im ersten Wahlgang keiner der Bewerber die absolute Mehrheit, findet ein zweiter Wahlgang statt, bei dem der Bewerber mit den meisten Stimmen gewinnt.
Mit seiner Öffnung für ein Bündnis mit dem RN ging Republikaner-Chef Ciotti einen beispiellosen Schritt. Ein Zusammengehen mit den Rechtspopulisten war für die meisten Parteien in Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten tabu gewesen.
Das galt bislang auch für die Republikaner: Die französischen Konservativen berufen sich auf die Tradition von Charles de Gaulle, der vor seiner Zeit als Präsident im Zweiten Weltkrieg den französischen Widerstand gegen Nazi-Deutschland angeführt hatte. Die Vorgängerpartei des RN, den Front National, hatten hingegen Anfang der 1970er Jahre Jean-Marie Le Pen und Pierre Bousquet gegründet, ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS.
Mit Blick auf die Öffnung von Republikaner-Chef Ciotti sprach Marine Le Pen, Gründerin des RN und dessen Fraktionsvorsitzende in der Nationalversammlung, von einer „mutigen Entscheidung“ und bescheinigte Ciotti „Verantwortungsbewusstsein“.
Le Pen sagte weiter, der seit „vierzig Jahren angeblich bestehende ‚Cordon Sanitaire‘, der uns viele Wahlen hat verlieren lassen“, sei gerade dabei zu verschwinden. Mit dem geschichtsträchtigen Begriff „Cordon Sanitaire“ ist der jahrzehntelange Ausschluss von Regierungskoalitionen mit den Rechtspopulisten gemeint.
Eine mögliche Zusammenarbeit mit dem RN ist unter Frankreichs Konservativen jedoch hoch umstritten. Unmittelbar nach Ciottis Ankündigung erntete dieser aus den eigenen Reihen massiven Protest. Der republikanische Vorsitzende des französischen Senats, Gérard Larcher, sagte, er werde „ein Abkommen mit dem RN niemals billigen“.
Der Vorsitzende der republikanischen Fraktion im Senat, Bruno Retailleau, sprach von einer rein „persönlichen Linie“, die Ciotti in dieser Frage verfolge. Der Parteichef müsse daher seinen Posten aufgeben.
RN-Chefin Le Pen verfolgt seit einigen Jahren die Strategie, ihre Partei nach und nach salonfähig zu machen und etwas näher an die Mitte zu rücken. Der RN erzielte bei der Europawahl einen Wahltriumph und wurde mit Abstand stärkste Kraft. Die Partei mit dem Spitzenkandidaten Jordan Bardella kam auf mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Liste von Präsident Macron.
Staatschef Macron sagte unterdessen mit Blick auf die Neuwahlen, er werde auch im Fall eines Siegs des RN nicht vor dem Ende seiner Amtszeit zurücktreten. „Der RN schreibt nicht die Verfassung, auch nicht den Geist der Verfassung“, sagte Macron der Zeitung „Le Figaro“. Die Rolle des Präsidenten sei in der Verfassung klar geregelt, diese sei „unabhängig vom Wahlergebnis“ einer Parlamentswahl.
Derweil machte sich die politische Krisen-Stimmung in Frankreich auch auf den Finanzmärkten bemerkbar: Die Rating-Agentur Moody’s warnte davor, dass infolge der Ausrufung von Neuwahlen durch Macron und das gewachsene Risiko „politischer Instabilität“ Frankreichs Kredit-Rating herabgestuft werden könnte. Der Zinssatz für französische Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit erreichte am Dienstag 3,28 Prozent, der Unterschied zu deutschen Bundesanleihen war damit so hoch wie zuletzt im Jahr 2020.