Konzertkritik: Green Day in Berlin: Pop-Punk zwischen Weltschmerz, Rotzigkeit und Masturbation

Green Day ließen sich beim Start ihrer Deutschland-Tournee nicht beirren: weder von Regen, schlecht singenden Fans noch von dem Ergebnis der Europawahl. Stattdessen feierten sie das Jubliäum ihrer Alben „Dookie“ und „American Idiot“

Es ist wirklich himmelschreiend schlecht, wie sie „Know Your Enemy“ ins Mikrofon singt. Die Frau trifft keinen Ton, sogar Billie Joe Armstrong, der Sänger von Green Day, muss in diesem Moment lachen. Was hat er da getan? War vielleicht doch keine gute Idee, seinen größten Hit von einem Fan singen zu lassen – aber jetzt ist es eh zu spät, er lässt sie machen, und als die Gesangseinlage vorbei ist, nimmt er sie in den Arm und schreit ihr irgendwas ins Ohr. Sie nickt fiebrig, gibt ihm das Mikrofon zurück und nimmt Anlauf. Die ersten Reihen reißen die Arme in die Luft, Armstrong beginnt das ikonische Riff zu spielen, sie springt ab, fliegt durch die Luft und wird auf Händen getragen. Es ist ein Moment, so lieb, so stabil und ehrlich, wie ihn im Jahr 2024 wohl nur die Stadionrockband Green Day hinkriegen kann.

Im Januar erschien das 14. Studioalbum der Kalifornier, es heißt „Saviors“ und sollte bei diesem Konzert auf der Berliner Waldbühne so gut wie keine Rolle spielen. Denn Green Day feiern auf der aktuellen Tour zwei Jubiläen: 30 Jahre „Dookie“, und 20 Jahre „American Idiot“. „Dookie“ von 1994, ein rotziges Hit-Album, definierte den Pop-Punk. „American Idiot“, 2004, politische Rock-Oper, öffnete der Band die Tür zu den Stadien dieser Welt. Deshalb, im Vorfeld, die schier unglaubliche Ankündigung: Green Day werden bei dieser Tour beide Alben spielen. Und zwar komplett.

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Der einzige neue Song klingt wie Green Day von einer KI geschrieben

Pünktlich, zehn Minuten bevor die Kalifornier loslegen, beginnt der Regen vor der Waldbühne. Dann kommen sie auf die Bühne, Schlagzeuger Tré Cool, Bassist Mike Dirt und Sänger und Gitarrist Billie Joe Armstrong. Der Opener, „The American Dream Is Killing Me“, ein Song der neuen Platte „Saviors“, klingt als hätte KI einen Green Day-Song geschrieben. Melodische Gitarre, irgendwie schrammelig und trotzdem poppig, 4-to-the-floor Schlagzeug und ein amerikakritischer Text mit so Zeilen wie „People On The Street / Unemployed And Obsolete“.

Das soll es dann auch schon gewesen sein mit den neuen Songs. „I declare I don’t care no more/I’m burning up and out and growing bored”, singt Billie Joe Armstrong, es sind die ersten Zeilen des Songs „Burnout“, dem Eröffnungsstück von „Dookie“. Das Album erschien 1994, Billie Joe Armstrong war gerade 22 Jahre alt. Der Titel, ein Wort für Stuhlgang, sollte darauf anspielen, dass die Bandmitglieder wegen der schlechten Ernährung auf Tour immer Verdauungsprobleme hatten. „Dookie“ ist ein Album über Langeweile, Masturbation, Fernsehen gucken und Root Beer. Das Leben der Teenager in den Neunzigern, deshalb schlug das Album ein und ebnete den Weg für unzählige weitere Pop-Punk Bands. Eine spaßigere melodischere Version dessen, was die Sex Pistols, die Ramones oder die Dead Kennedys aus den Siebzigern zurückgelassen hatten.

Die Fans wollen Hits. Green Day geben’s ihnen

Keine neue Musik, lieber ein 30 Jahre altes Album. Man könnte das als künstlerische Selbstaufgabe lesen. Man könnte es aber auch als eine Besinnung auf die Wurzeln sehen, als das uneitelste Geschenk, das eine Band ihren Fans geben kann: Wir wissen, was ihr hören wollt, hier habt ihr’s. Green Day zocken „Dookie“ ohne viel Gerede durch. Billie Joe Armstrong, schwarzes Hemd, rote Krawatte, sagt immer wieder „Dankeschön“ und „Deutschland“ und irgendwann dann: „Wir kommen seit über 30 Jahren hier her, seit 1991 spielten wir in jedem Dreckskaff in diesem wunderschönen Land und jetzt stehen wir hier, es ist fucking unglaublich.“

Ein Gitarrensolo kündigt die nächsten 57 Minuten an. „American Idiot“. Ein linkes, die Bush-Regierung kritisierendes, als Rockoper erzählt, voller Weltschmerz und Liebeskummer. „American Idiot“ ist die einfachste Geschichte der Welt, deshalb wirkt sie bis heute: Ein Outsider, ein Punk, ein Idiot, verliebt sich in ein schönes Mädchen, von dem er denkt, sie sei eh zu gut für ihn. Dazu hasst er alles andere, seine Familie, seine Stadt, seine Regierung. Viele Menschen vor der Waldbühne tragen „American Idiot“-Shirts an diesem Abend, das Cover mit der herzförmigen Handgranate. Das Album ist dem Berliner Publikum näher als das rotzige „Dookie“, weil es stadionrockiger und noch nicht so lange her ist. Es folgen Klassiker wie „Holiday“ und „She’s A Rebel“. Der Radiohit, „Boulevard Of Broken Dreams“, wird aus hunderten, sicher in Klapphüllen verpackten Smartphones gefilmt, da ist der Regen schon lange egal geworden.

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Billie Joe Armstrong war schon immer ein politischer Mensch, er unterstützte früh Barack Obama, später Hillary Clinton, dann Joe Biden. „Did You Vote?“, fragt er in Berlin, einen Tag nach der Europawahl. Bejahender Jubel. Dann: „We Have To Get Rid Of These Fucking Right-wing Idiots. Never Again!“ Hoffnungsvoller Jubel.

Am Ende statt zertrümmerter Gitarre eine Verbeugung 

Es ist fast 22 Uhr, lärmbedingt muss auf der Waldbühne bald Schluss sein. Billie Joe Armstrong mag es nicht, wenn man ihm den Saft auf der Bühne abdreht. 2012 wollten ihm die Veranstalter auf einem Radiofest den Strom abstellen, weil Green Day zu lange spielten. Armstrong rastete auf der Bühne aus, zertrümmerte seine Gitarre und begab sich danach in den Entzug. 

Heute ist er ein rücksichtsvoller Pop-Punker geworden. Für seinen letzten Song, „Good Riddance (Time of your life)“, den schnulzig-schönsten aller Green Day-Songs, hat er nur noch zwei Minuten. Billie Joe Armstrong nimmt sich die Gitarre. Er spielt den Song einfach ein bisschen schneller in der Strophe, so als würde man die Wiedergabegeschwindigkeit auf 2x erhöhen. Punkt 22 Uhr ist er fertig. Green Day verbeugen sich im Regen vor Berlin. Hoffentlich kommen sie genau so uneitel und ehrlich zum 30- und 40-jährigen wieder.