Die Spekulationen überschlagen sich in Berlin: Stimmt die AfD bei der Vertrauensfrage für Olaf Scholz, um Chaos zu stiften? Denkbar, aber sinnlos. Entscheidend ist etwas anderes.
Diese Kolumne erschien erstmals am 5. Dezember 2024. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir sie an dieser Stelle erneut.
Klingt komisch, ist aber so: Wenn Olaf Scholz am 16. Dezember im Bundestag den Antrag stellt, ihm das Vertrauen auszusprechen, möchte der Bundeskanzler das Gegenteil erreichen. Der Bundestag soll ihm das Misstrauen aussprechen. Allein diese Niederlage eröffnet einen Weg zu den von ihm angekündigten Neuwahlen, weil sie dem Kanzler das Recht gibt, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen. Es ist nach dem Grundgesetz der einzige Weg zu vorgezogenen Neuwahlen.
Dass ein Kanzler etwas beantragen muss, was er gar nicht will, macht die Sache an sich kompliziert genug, weshalb sie auch schon Gegenstand grundsätzlicher Betrachtung durch das Bundesverfassungsgericht war. Noch verwirrender scheint sich die Angelegenheit diesmal durch hartnäckige Spekulationen zu entwickeln, die AfD könne am 16. Dezember für Scholz stimmen und ihm zusammen mit den Stimmen von SPD und Grünen eine Mehrheit verschaffen.
Einzelne AfD-Abgeordnete haben eine solche Absicht unter Verweis auf Scholz’ Weigerung, der Ukraine das Taurus-System zu liefern, schon erkennen lassen. Die AfD als Ganzes, so heißt es hie und da, könne Interesse an einem Sieg des Kanzlers in der Vertrauensfrage haben, um den parlamentarischen Betrieb insgesamt zu diskreditieren – oder auch, um Unions-Kanzlerkandidat Merz wegen dessen Brandmauerdiktum die politischen Ambitionen zu vermasseln. Der Ursprung aller Verdachtsmomente gegen die AfD lässt sich am besten so zusammenfassen: Bei denen weiß man nie.
Die Stimmen der AfD sind bei dieser Vertrauensfrage irrelevant
Ist es also realistisch, dass Olaf Scholz mithilfe der Rechtsextremen im Amt bleibt? Die Antwort ist einfach, sie lautet: nein.
Derzeit hat der Bundestag 733 Abgeordnete. Die für die Vertrauensfrage notwendige Kanzlermehrheit liegt bei 367 Stimmen. SPD und Grüne verfügen insgesamt über 324 Mandate. Es brauchte also von den 76 AfD-Abgeordneten 43 Stimmen für Scholz – vorausgesetzt, SPD und Grüne stimmen geschlossen für den Kanzler.
Da geht’s schon los. Die Grünen, die ja Habeck als Kanzler wollen, haben eigentlich keinen Grund mehr für Vertrauen in Scholz. Und der ist in letzter Zeit auch darum bemüht, ihnen keinen zu liefern. In seiner Rede zum Wahlkampfauftakt sagte der SPD-Kanzlerkandidat zum Beispiel vor einigen Tagen: „Die Grünen stehen für viele im Land nur noch für Gängelung, Überforderung und staatliche Bevormundung.“ Solche Nettigkeiten aus dem Mund des Kanzlers dürften es vielen Grünen erleichtern, sich bei der Vertrauensfrage der Stimme zu enthalten. Mindestens.
Das hat Historie
Auch in der SPD ist nicht unbedingt geschlossenes Stimmverhalten zu erwarten. Und das nicht etwa, weil manche Abgeordnete mit dem Kanzlerkandidaten Scholz hadern, sondern weil die doppelte Loyalität geübte Praxis unter Sozialdemokraten ist. Schon 2005, als Gerhard Schröder in der gleichen Absicht wie nun Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellte, zerfiel die SPD-Fraktion: 105 Abgeordnete, unter ihnen der heutige Fraktionschef Rolf Mützenich, votierten in der namentlichen Abstimmung für Schröder, 140 enthielten sich, unter ihnen Schröder selbst, der heutige SPD-Chef Lars Klingbeil und der Abgeordnete Olaf Scholz.
Wenn sich die SPD-Fraktion 2024 wieder so verhält, spielt das Verhalten der AfD schon keine Rolle mehr. Anders gesagt: Indem ausreichend SPD-Abgeordnete Scholz nicht das Vertrauen aussprechen, um das er sie bittet, können sie sicherstellen, dass er erreicht, was er wirklich will.
So einfach kann Demokratie sein.