Der Urlaub sollte ein Durchbruch werden, Pia L. wollte ihr Kindheitstrauma überwinden und einmal dazugehören – auf einer Gruppenreise. Das Gegenteil war der Fall, sie musste gehen.
Liebe Frau Peirano,
ich bin Altenpflegerin, 52, Single und kinderlos. In meiner Kindheit bin ich von anderen aufgrund meines Aussehens (starkes Übergewicht und Brille) gemobbt worden und habe seitdem den starken Wunsch, mal zu einer Gruppe zu gehören. In meinem Kollegenkreis ist ein guter Zusammenhalt, und ich habe auch einige Freundinnen und Freunde gefunden.
Dieses Jahr habe ich mich dann getraut, mir einen Wunsch zu erfüllen: mit einer Gruppe in den Bergen zu wandern. Ich habe gespart und mich dann bei einem Reiseveranstalter angemeldet, der Touren in den Alpen anbietet. Meine Reise war im September in Südtirol, es war eine siebentägige Hüttentour mit einigen Gipfeln von 3000 bis zu 3500 Metern. Die Fotos sahen traumhaft aus!
Da ich in Norddeutschland wohne, konnte ich nicht in den Bergen trainieren, bin aber viel Fahrrad gefahren und im Flachland wandern gegangen.
Dann kam ich in Südtirol am Treffpunkt an und war sehr aufgeregt, wer wohl mit mir wandern würde. Es waren neun andere, alle sehr fit und in ihren 40ern, bis auf ein auch sehr fittes schwules Paar Anfang 60.
Sofort unterhielten sich alle über ihre bisherigen Touren und Reisen, auch in Asien, Südamerika und Afrika. Sie fanden mühelos zueinander, lachten viel und und waren eine eingeschworene Gruppe. Ich war wieder außen vor, bemühte mich aber sehr, den anderen zuzuhören, Interesse zu zeigen und freundliche Bemerkungen zu machen. Ich war überzeugt, dass wir uns gegenseitig helfen und die Tour gemeinsam schaffen würden, mit gegenseitiger Rücksichtnahme.
Der Urlaub begann
Am nächsten Tag ging die Wanderung los, gleich sieben Stunden auf den ersten Dreitausender. Die hatten ein ziemliches Tempo drauf, auch der Bergführer! Ich hatte ganz neue Bergstiefel und bekam die ersten Blasen, und leider schnaufte ich hinterher. Wenn die anderen Pause machten, kam ich erst an, wenn sie schon wieder aufbrechen wollten – so habe ich fast nie Pause gemacht. Dann kamen unterschwellig die ersten Bemerkungen, dass alle das Tempo halten müssten, weil es sonst zu lange dauere. Mir war schon klar, dass ich damit gemeint war. An den ersten Tagen lief immer noch mal jemand mit mir hinten, insbesondere das schwule Paar war nett, aber ich geriet immer mehr ins Abseits.
Es tat so weh, wieder mal aus einer Gruppe ausgeschlossen zu sein! Ich war gefühlsmäßig sofort wieder im Sportunterricht in der Schule, als alle anderen mich zuletzt in die Mannschaft wählten oder sich über mich lustig machten, weil ich beim Geräteturnen versagte.
Ich kannte mich in den Bergen nicht aus, und hatte deshalb auch nicht alles dabei, was man brauchte. Der Bergführer nahm mich am dritten Tag auf einer Hütte beiseite und fragte, ob ich schon mal mit Steigeisen gegangen sei. Ich hatte keine Ahnung, was Steigeisen sind.
Dann druckste er etwas herum und sagte, dass es zu gefährlich für mich und die Gruppe sei, wenn ich mit über den Gletscher gehen würde, ohne die bergsteigerische Erfahrung mitzubringen. Ich hätte mir die Beschreibung der Tour und der Anforderungen genauer durchlesen müssen und die Tour passe nicht zu mir.
Er sagte, dass ich am nächsten Tag von einem Kollegen von ihm an der Hütte abgeholt würde und dann von ihm wieder ins Tal begleitet würde.
Ich fing sofort an zu heulen und war fassungslos. Die hatten mich einfach aus der Gruppe ausgestoßen, weil ich eine Last war! Es war doch ein Urlaub, da kann man doch auch mal Rücksicht nehmen. Die anderen mieden meinen Blick und saßen an dem Abend plötzlich schon so zusammen, dass ich keinen Platz am gemeinsamen Tisch fand und mich alleine hinsetzen musste. Die einzigen, die noch ein paar tröstende Worte fanden, waren die beiden 60-Jährigen aus unserer Gruppe, die sich nett von mir verabschiedeten. Sie haben mich sogar umarmt und meinten, ich könne mich bei ihnen melden, wenn ich mal in Berlin sei.
Die anderen waren plötzlich ganz intensiv mit Kartenspielen beschäftigt, und ich schlich bedröppelt in mein Zimmer und weinte stundenlang. Am nächsten Morgen wurde ich dann abgeholt, aber der Bergführer war auch nicht besonders freundlich.
Ich habe von der Agentur eine teilweise Rückerstattung bekommen, alleine ein paar Tage in einem Berghotel verbracht und bin dann nach Hause gefahren. Aber der Stachel sitzt tief, auch zwei Monate später noch. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, aber ich bin auch wütend und verzweifelt.
Was kann ich machen, um das zu verarbeiten?
Viele Grüße
Pia L.
Liebe Pia L.,
es hört sich nach einer großen Kränkung an, was Sie in Ihrem lange ersehnten Urlaub erlebt haben! Insbesondere, wenn eine neue Verletzung auf eine bereits geschwächte Stelle trifft, ist sie besonders schmerzhaft (etwa als wenn jemand mir auf einen bereits angebrochenen Fuß tritt). Sie erlebten schon viele Verletzungen in Ihrer Kindheit oder Jugend und haben die Erfahrung gemacht, ausgestoßen zu werden, nicht dazuzugehören, verlacht und verspottet zu werden und sich vielleicht auch minderwertig zu fühlen zwischen den schlankeren, sportlicheren, sozial integrierteren Kindern.
Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Unbewusstes sich sehr danach gesehnt hat, dieses Kindheitstrauma aufzulösen und als Erwachsene die Erfahrung zu machen, endlich auch mal zu den sportlichen, netten, integrierten Menschen zu gehören, mit ihnen gemeinsam etwas Schönes zu erleben und von der Gemeinschaft getragen zu werden. Das ist dann gewaltig nach hinten losgegangen und Sie sind wieder ausgestoßen und abgehängt worden. Das ist bitter!
Leider muss ich Ihnen in meiner Rolle als Realtitätskellnerin auch eine unbequeme Tatsache auf meinem Silbertablett servieren: Sie haben sich diesen Misserfolg ein Stück weit selbst eingebrockt, weil Ihre starke Sehnsucht die Drehbuchschreiberin Ihrer Reiseplanung war und Sie dabei auch ein bisschen über die Realität hinweggesehen haben.
Anders ausgedrückt hat Ihre innere Mutter (also der erwachsene Teil, der Entscheidungen trifft und umsetzt) Ihrem inneren Kind (also dem Teil, der Sehnsüchte und Wünsche hat) ein Bein gestellt, indem die innere Mutter eine unpassende Tour ausgesucht hat und damit maßgeblich zu dem Misserfolg beigetragen hat.
Ich sage Ihnen das nicht, um Ihnen jetzt noch das Gefühl von „selbst Schuld“ zu geben! Sondern ich bin davon überzeugt, dass es sehr wertvoll ist, den eigenen Anteil an Schwierigkeiten zu erkennen, damit man daraus auch für die Zukunft lernt, sich besser zu schützen und gewisse Fehler nicht zu wiederholen.
Mir sticht die ambitionierte Wahl Ihrer Tour ins Auge, die ich für Ihre Situation in der Tat als etwas selbst sabotierend empfinde. Sie haben gleich zu Beginn eine mehrtätige Hüttentour ausgesucht, die mehrere Dreitausender und sogar einen Dreieinhalbtausender beinhaltet. Das ist ganz schön hoch für den Anfang!
Hier ist die Realität auf meinem Tablett: Die meisten Menschen, die so eine Tour machen, haben schon viel Bergerfahrung. Sie haben häufiger auf Hütten übernachtet, wandern seit Jahren (oder sogar seit ihrer Kindheit) in den Bergen und haben auch schon öfter mal höhere Berge bestiegen. Sie haben dabei gelernt, dass man langsam und gleichmäßig gehen und atmen muss. Sie haben ihre eigenen Grenzen ausgelotet: Wie fühlt sich das in den Beinen an, an einem Tag 1000 Höhenmeter rauf und runter zu gehen? Bin ich schwindelfrei? Stört es mich, wenn auf der Hütte keine Dusche ist?
Sie haben dabei auch die einen oder anderen technischen Schwierigkeiten zu meistern gelernt, die in den Bergen auf einen zukommen können – zum Beispiel in einer Seilschaft über einen Gletscher zu gehen, damit man nicht in eine Gletscherspalte fällt, mit Steigeisen zu laufen oder ein Klettersteigset zu benutzen. Wer noch höher hinaus will, muss vielleicht auch klettern oder sogar eisklettern können. Außerdem muss man wissen, welches Material man braucht. Zum Beispiel kann es im September in den hohen Lagen durchaus schon schneien und da sind eine Mütze, dicke Handschuhe und Gamaschen unbedingt nötig, damit man man nicht nass und kalt wird.
Erst durch die eigenen langjährigen Erfahrungen weiß man, was man schafft und was nicht. Und eigentlich kann man erst dann auch die Tourenbeschreibung eines Reiseanbieters richtig lesen und einschätzen, wenn man weiß, was sie genau bedeutet. Ich habe den Eindruck, dass Sie diese ganzen Schritte nicht durchlaufen und sich selbst so einer Tour ausgesetzt haben, die eigentlich viel zu schwer für Sie ist. Und wenn man das macht, ist der Misserfolg nicht weit.
Es tut mir so leid, was Ihnen passiert ist, weil ich, wie gesagt, Ihren Wunsch nach einer Heilung Ihrer schlimmen Erfahrungen in der Kindheit so verstehen kann. Aber es fehlte der Schritt, dass Sie sich realistisch damit auseinandergesetzt haben, in was für einem Rahmen Sie eine wirklich positive Erfahrung hätten machen können.
Es gibt so viele Wander-und Aktivreisen, und da ist bestimmt auch ein passendes Angebot für Sie dabei, um sich heranzutasten. Sie haben ja jetzt die Erfahrung gemacht, dass diese Tour zu anstrengend war (was ich völlig verständlich finde!). Vielleicht telefonieren Sie mal mit einer erfahrenen Agentur und schildern, was Sie sich wünschen, was Sie können und suchen eine passendere Tour für Einsteiger aus. Das wäre das, was ich Ihnen raten würde: Nach dem Sturz gleich wieder rauf aufs Pferd, bzw. auf ein ruhigeres Pferd.
Ihre Gruppe hat sich Ihnen gegenüber wenig kooperativ und sozial verhalten, aber vielleicht hilft Ihnen ein Perspektivwechsel: Die Teilnehmer der Gruppe haben sich auch auf diese Wanderreise gefreut, haben sich davor richtig vorbereitet und wollten diese Tage auskosten. Und sie hatten wenig Bereitschaft, Rücksicht auf jemanden zu nehmen, der ihnen ihre Wanderung erschwert. Halten Sie es für legitim, dass man im Urlaub mal zuerst an sich denken will?
Abgesehen davon kann es in den Bergen für alle auch wirklich gefährlich werden, wenn ein Gruppenmitglied sich überfordert: Der Bergführer muss sich dann um dieses Mitglied kümmern und kann die Gruppe nicht führen. Außerdem kann eine zu niedrige Gehgeschwindigkeit bei Wetterumschwüngen etc. dazu führen, dass man nicht rechtzeitig die nächste Hütte erreicht und in ein Unwetter gerät. Auch diese Risiken sind auf niedrigeren Touren deutlich geringer.
Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, sich bei aller berechtigten Enttäuschung und Wut auf die Gruppe noch mehr mit der Realität anzufreunden und sich eine Reise auszusuchen, bei der Sie Gleichgesinnte treffen können und mehr Freude haben. Und dann ist auch der Erfolg nicht weit!
Herzliche Grüße
Julia Peirano