Das Assad-Regime ist gefallen. Aber Syrien ist groß – und die Rebellen sind nicht die einzige Macht im Land. Ein Überblick.
„Historisch“, das ist ein Begriff, der inflationär genutzt, aber für Tage wie den 8. Dezember 2024 erfunden wurde. Mehr als ein halbes Jahrhundert unterdrückte die Assad-Dynastie die syrische Bevölkerung, jetzt scheint deren Schreckensherrschaft vorüber.
Nach jahrelangem, blutigen Stillstand ging es am Ende auf einmal ganz schnell. Die Rebellenallianz unter dem Kommando von Abu Mohammed al-Dschulani nahm binnen Tage eine wichtige Stadt nach der anderen ein. In der Nacht von Samstag auf Sonntag übernahmen sie schließlich die Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus. Diktator Baschar al-Assad floh ins Ausland – Reiseziel: unbekannt.
Ende gut, alles gut? So einfach ist es leider nie, vor allem nicht im Nahen Osten. Denn, obwohl Syrer überall auf Welt den Sturz des Diktators feiern, ist das Land noch weit davon entfernt, zu so etwas wie Einigkeit zurückzukehren.
Aber wer hat hier eigentlich alles seine Finger im Spiel? Ein Überblick über das Who is Who.
Welche Fraktionen spielen in Syrien eine Rolle?
Das Assad-Regime
Baschar al-Assad ist, war seit 2000 an der Macht – seine Familie kontrollierte Syrien seit ihrem Putsch 1970. Im Gegensatz zu seinem Vater Hafiz al-Assad gab Baschar zu Beginn den gemäßigten Reformer. Die Fassade bröckelte aber spätestens, als er 2011 Proteste während des Arabischen Frühlings brutal niederschlagen ließ – der Beginn des Bürgerkriegs. Syrien
Der Assad-Clique war es dank seiner Verbündeten in Moskau und Teheran in den vergangenen Jahren gelungen, weite Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Vor der Rebellenoffensive kontrollierte der Diktator rund 60 Prozent des Staatsgebiets.
Die Rebellen um Hajat Tahrir al-Scham
Hajat Tahrir al-Scham (HTS), auf deutsch etwa: „Komitee zur Befreiung der Levante“, ist die tonangebende Fraktion eines Zusammenschlusses mehrerer islamistischer Rebellengruppe. Die HTS, die einst enge Verbindungen zur Terrorgruppe al-Kaida unterhielt, will nach Angaben ihres Anführers Abu Mohammed al-Dschaulani nicht auf Dauer herrschen, sondern Syrien den Syrern zurückgeben. Nun spielte Selbstlosigkeit im syrischen Machtkampf bislang so gar keine Rolle. Ob al-Dschaulani wirklich eine Art arabischer Selenskyj ist oder doch nur ein gefährlicher Islamist?
Syrien Al-DschulaniKurzportrait 11:20
Die kurdischen Kämpfer
Die Kurden, die größte ethische Minderheit in Syrien, kontrollieren den von ihnen mehrheitlich bewohnten Norden und Osten des Landes. Nachdem sich die Regierungstruppen aus ihren Gebieten zurückgezogen hatten, etablierten sie eine weitgehend autonome Regierung. Die Syrian Democratic Forces (SDF) ist im Prinzip die Armee der Kurden – ein Verbund aus Kurden, syrischen Christen und kleineren arabischen Fraktionen. Die SDF kontrolliert rund ein Viertel des Landes – bis heute. Dank ihres mächtigen westlichen Partners.
Die USA unterstützten die kurdische Kämpfer, weil die unverzichtbar bei der Zerschlagung des Islamischen Staats auf syrischem Boden waren. Washington unterhält selbst seit 2016 einen Stützpunkt in der südlichen Region al-Tanf.
Der Islamischer Staat (IS)
Der Islamische Staat hat seine Hochzeit in Syrien längst hinter sich. Einst hielten die radikalen Islamisten, ebenfalls ein al-Kaida-Ableger, ein Drittel des Landes. 2014 hatten sie auf syrisch-irakischem Boden ihr Kalifat ausgerufen, mit Rakka als ihrer Hochburg. Doch eine Koalition unter Führung der USA drängte die Islamisten massiv zurück. Heute kontrolliert der IS nur noch winzige Restgebiete.
Die Türkei und die Syrische Nationale Armee
Die Türkei geht in Nordsyrien gegen die YPG-Milizen vor, die Ankara als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrorgruppe einstuft.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan will seit Langem eine 30 Kilometer lange „Sicherheitszone“ entlang der türkisch-syrischen Grenze errichten und dort Millionen syrische Flüchtlinge unterbringen, die derzeit in der Türkei leben. An der Seite der Türkei steht die Syrische Nationale Armee. Ein irreführender Name, hat die doch nichts mit der Regierung in Damaskus zu tun, sondern ist selbst ein Zusammenschluss mehrerer Rebellengruppen.
Die überraschende Rebellenoffensive stürzt Assad
13 Jahre tobte der Bürgerkrieg in Syrien. UN-Schätzungen zufolge starben mehr als 300.000 Menschen, 14 Millionen flohen, Hunderttausende davon auch nach Deutschland.
In den vergangenen Jahren hatte sich wenig an den Machtverhältnissen getan, die Frontlinien waren festgefahren. Bis Ende November, als die Rebellen, die lange kaum über die Provinz Idlib hinausgekommen waren, ihre augenscheinlich letzten Kräfte zu einer Offensive bündelten – und zur Überraschung der meisten Erfolg hatte. Und wie.
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Binnen einer Woche eroberten sie strategisch entscheidende Orte, darunter die weite Teile der bevölkerungsreichsten Metropole Aleppo und die Stadt Hama, das Einfallstor ins syrische Zentralland an der Hauptstraße nach Damaskus, dem Haupteinflussbereich des Assad-Regimes.
Wegen des Ukraine-Krieges hatte Russland seine Unterstützung für das Regime zuletzt stark heruntergefahren. Ohne die schützende Hand Wladimir Putins und die Hilfe der durch den Krieg mit Israel beschäftigte libanesische Hisbollah-Miliz, war das Regime nicht in der Lage, den Vorstoß der Rebellen aufzuhalten – das Ende einer jahrzehntelangen Schreckensherrschaft.
Die siegreichen Aufständischen kontrollieren nun zwar einen Großteil des Landes, auch und insbesondere die größten Städte Aleppo, Damaskus und Homs. Doch der Norden und Nordosten des Staates ist weiterhin unter Kontrolle Dritter.
Die kommenden Tage und Wochen werden zeigen, wie die anderen in- und ausländischen Akteure mit dem Sieg der HTS umgehen werden.