Sie kann die Reihen schließen oder ins politische Verderben führen: Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers im Bundestag. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat sie nach der Europawahl einmal mehr ins Spiel gebracht. Bloß: Was hätte Olaf Scholz davon?
Die Wahllokale waren kaum geschlossen, da schaltete Carsten Linnemann auf Attacke. „Eigentlich müsste er die Vertrauensfrage stellen“, sagte der CDU-Generalsekretär in der ARD mit Blick auf Bundeskanzler Olaf Scholz . „Entweder die Ampel macht einen Kurswechsel oder sie muss den Weg freimachen für Neuwahlen.“
Die Forderung ist zwar an sich nichts Neues – auch zu anderen Gelegenheiten war Linnemann schon mit ihr an die Öffentlichkeit gegangen –, aber diesmal dürfte der Vorstoß angesichts des desaströsen Europawahlergebnisses der Ampelparteien nicht einfach so verhallen. Das Ziel des CDU-Generals ist dabei klar: Schon vor der planmäßigen Bundestagswahl 2025 möge die Union doch bitte an die Macht kommen.
Vertrauensfrage wurde fünf Mal gestellt
Der zurzeit einzige Weg zu Neuwahlen läuft über die Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler im Parlament, geregelt in Artikel 68 des Grundgesetzes: „Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.“
Das Prozedere ist – theoretisch – denkbar einfach. Der Bundeskanzler kann jederzeit die Initiative ergreifen und beim Bundestag den Antrag stellen, ihm das Vertrauen auszusprechen. Sollte er dabei keine Mehrheit mehr hinter sich versammeln, kann er den Bundespräsident bitten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Eine verlorene Vertrauensfrage wäre der Beleg dafür, dass eine Bundesregierung nicht mehr handlungsfähig ist. Andererseits kann die Vertrauensfrage auch dazu dienen, die Reihen der Regierungsfraktionen zu schließen – wenn sich die Mehrheit der Abgeordneten hinter den Bundeskanzler stellt. Neuwahlen wären in diesem Fall vom Tisch.
Insgesamt fünf Mal stellte in der Geschichte der Bundesrepublik der Regierungschef die Vertrauensfrage. 1972 verlor SPD-Kanzler Willy Brandt das Vertrauen einer Mehrheit der Abgeordneten, nachdem einige Parlamentarier zur Unionsfraktion gewechselt waren. Der Bundestag wurde aufgelöst, die SPD erzielte bei den vorgezogenen Neuwahlen ein Rekordergebnis, Brandt blieb Kanzler – Ziel erreicht.
1982 kam es gleich zwei Mal zum Showdown im Bonner Bundestag. Fragen der Aufrüstung und der Arbeitsmarktpolitik hatten zu Zerwürfnissen in der sozialliberalen Koalition von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) geführt, die Vertrauensfrage sollte das Bündnis disziplinieren – mit Erfolg: Schmidt blieb vorerst im Amt – bis zum Bruch der Koalition im September 1982.
Der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU) nutze die Gunst der Stunde und versammelte eine Mehrheit von Unions- und FDP-Abgeordneten hinter sich und wurde gemäß Artikel 67 des Grundgesetzes per konstruktivem Misstrauensvotum zum neuen Bundeskanzler gewählt. Um sich für das Amt legitimieren zu lassen, stellte er im Dezember die Vertrauensfrage, allerdings mit dem klaren Ziel, diese zu verlieren und so Neuwahlen herbeizuführen. Denn ein Selbstauflösungsrecht hat der Bundestag laut Grundgesetz nicht. Aus der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 gingen die schwarz-gelbe Koalition als Siegerin und Kohl als Kanzler hervor.
Es dauerte 19 Jahre, bis erneut ein Kanzler All-in ging. SPD-Kanzler Gerhard Schröder verknüpfte die Vertrauensfrage mit einer konkreten Sachfrage, nämlich der Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan, um den Kampf der USA gegen den internationalen Terrorismus zu unterstützen. In den Regierungsfraktionen von SPD und Grünen rumorte es wegen dieser Frage; Schröder testete seine Macht – und gewann.
Folgt auf die Europawahl die Neuwahl des Bundestags?
Nur vier Jahre später stellte Schröder erneut die Vertrauensfrage. Allerdings diesmal – ähnlich wie Amtsvorgänger Kohl 1982 – mit dem Ziel, diese zu verlieren und Neuwahlen herbeiführen zu können. Grund waren unter anderem Reformen in der Sozialpolitik, die auf breiten Widerstand gestoßen waren, und von der SPD verlorene Landtagswahlen. „Geben wir den Menschen die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Staat sie wollen“, erklärte der Kanzler. Nach der Wahl war Rot-Grün am Ende, Angela Merkel (CDU) und eine Große Koalition übernahmen die Macht in der Bundesrepublik.
Und nun, 2024, Vertrauensfrage Nummer sechs und aus Linnemanns Traum von Neuwahlen wird Realität? Aus Sicht der Ampel dürfte eine Vertrauensfrage durch Olaf Scholz ein reichlich sinnloser Schritt sein. Keine der drei Regierungsparteien dürfte mit Blick auf das Europawahlergebnis und auf aktuelle Umfragen davon profitieren. Die SPD und der Kanzler würden nach Lage der Dinge ihre Macht verlieren, die Grünen abschmieren und die FDP müsste gar um den Einzug in den Bundestag bangen. Warum sollte Scholz dieses Risiko eingehen?
Zumal die Möglichkeit eines Koalitionsbruchs ohnehin über Berlin schwebt, Stichwort: anstehende Haushaltsberatungen. Hierbei könnte es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen SPD, Grünen und FDP kommen. Und dann könnte sie kommen, die große Stunde der Strategen um Carsten Linnemann im Konrad-Adenauer-Haus: Sie könnten sich wie einst Helmut Kohl eine eigene Mehrheit im Bundestag zusammensuchen, per konstruktiven Misstrauensvotum Olaf Scholz stürzen, einen neuen Kanzler wählen – und anschließend wiederum ihrerseits über die Vertrauensfrage Neuwahlen zur eigenen Legitimation herbeiführen.
Quellen: Carsten Linnemann in der ARD; Artikel 68 des Grundgesetzes; Artikel 67 des Grundgesetzes; Deutscher Bundestag zu Vertrauensfragen 1972, 1982, 1982, 2001, 2005; Bundeszentrale für poltische Bildung