Am 10. Juni 1990 kommt es bei einem Flug von British Airways hoch über den Wolken zu einem schrecklichen Zwischenfall. Bei der Maschine platzt eine Windschutzscheibe. Der Pilot wird hinausgesaugt. Nur durch das beherzte Eingreifen von Crew und Copilot wird eine noch größere Katastrophe verhindert.
Als die Maschine der British Airways mit der Flugnummer 5390 an jenem Sonntag, den 10. Juni 1990, vom Flughafen Birmingham in Richtung Malaga, Spanien, abhebt, läuft zunächst alles nach Plan. Timothy Lancaster, 42, ist ein erfahrener Pilot. Ebenso sein 39-jähriger Copilot Alastair Atchiston. Neben den beiden Piloten sind 81 Passagiere und vier weitere Crewmitglieder an Bord. Um 7.20 Uhr Ortszeit hebt die Maschine vom Typ BAC-1-11 ab. Kurz nachdem Atchiston den Startvorgang übernommen hat, übergibt er die Verantwortung an Lancaster. Beide Piloten lösen ihre Schultergurte, Lancaster lockert seinen Beckengurt. Sie lassen sich von Steward Nigel Odgen eine Tasse Tee bringen, während sich im hinteren Teil des Flugzeugs die Crew auf die Frühstücksausgabe vorbereitet. Um 7:33 Uhr kommt es plötzlich über der Stadt Didcot in Oxfordshire in rund 5300 Meter Höhe zu einem lauten Knall.
Die linke Windschutzscheibe löst sich aus dem Fensterrahmen. Durch den plötzlichen Druckabfall fliegt auch die Cockpittür aus ihrer Verankerung und verkeilt sich in den Schubhebeln. Sofort strömt Kondensnebel in den Flieger. Der damals 36-jährige Odgen erinnert sich in einer Doku: „Ich dachte ‚Oh Gott, eine Bombe'“. An Bord herrscht blankes Entsetzen. Passagiere schreien, schnappen nach Luft, der Flieger wird durchgeschüttelt und es herrscht von jetzt auf gleich ein ohrenbetäubender Lärm durch den tosenden Wind. Checklisten und Flugpläne fliegen durch die Luft und Trümmer fegen durch das Cockpit.
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Die Sogkraft ist so stark, dass der Pilot durch die Fensteröffnung gezogen wird. Er bleibt mit den Füßen an der Steuersäule hängen. Sofort packt ihn Steward Nigel Odgen an der Taille. Als er mit seinen Füßen an der Flugsteuerung hängen bleibt, deaktiviert er den Autopilot und das Flugzeug sinkt jetzt rapide ab. Es neigt sich plötzlich um sechs Grad mit der Nase nach unten und um 25 Grad nach rechts. Weil die Cockpittür auf der Navigationskonsole gelandet ist und die Drosselklappen nach vorne gedrückt hält, befindet sich der Flieger nun mit einer erhöhten Geschwindigkeit von eben noch 555 auf fast 630 Kilometer pro Stunde unkontrolliert im Sinkflug.
Copilot von British Airways entscheidet sich für schnellen Sinkflug
Immer wieder schlägt der Kopf des Piloten, der nun halb draußen hängt, gegen das intakte Seitenfenster. Zudem herrschen draußen eisige Temperaturen von minus 17 Grad Celsius. Der Tornado, der jetzt im Cockpit wütet, bereitet Copilot Atchison große Probleme. Während er verzweifelt versucht, die Schubhebel zurückzunehmen, eilt Kabinenchef John Heward herbei. Dieser verstaut die Cockpittür in der Bordtoilette. Dann legt er seinen Arm um den Gurt des Jumpseats und hält Ogden fest, den er mit dem Gurt des Pilotensitz sichert. Ihm und Ogden gelingt es, die Füße des Kapitäns von der Steuersäule wegzureißen. Aber anstatt zu bremsen, beschließt Atchison, den rasanten Sinkflug fortzusetzen. Weil das Flugzeug keine automatischen Sauerstoffmasken an Bord hat und auch er mit der dünnen Luft zu kämpfen hat, muss er den Flieger so schnell wie möglich zu Boden bringen. Damit er mit der Crew und den Fluglotsen kommunizieren kann, verzichtet er auf eine Sauerstoffmaske.
Nachdem er die Kontrolle über den Flieger weitgehend zurückerlangt hat, setzt er einen Notruf ab. Doch durch den tosenden Lärm um ihn herum, kann er sich kaum mit der Flugsicherung verständigen. Indes bemühen sich in der Kabine die beiden anderen Flugbegleiter Susan Gibbins und Simon Rogers, die Passagiere zu beruhigen und auf eine Notlandung vorzubereiten. Als die Maschine in einer Höhe von rund 3300 Meter und mit einer Geschwindigkeit von 270 Kilometern pro Stunde fliegt, sackt der Körper des Piloten, der bis dahin gegen das Flugzeug gepresst wurde, zur Seite. Inzwischen ist auch der dritte Steward Simon Rogers ins Cockpit gekommen und erkennt erst jetzt das ganze Ausmaß der katastrophalen Situation. Hilflos sieht er mit an, wie seine beiden Kollegen verzweifelt den Unterkörper des Piloten umklammern, der halb aus dem Fenster hängt. Nigel Odgen: „Ich erinnere mich nur noch an Tims fuchtelnde Arme. Sie schienen etwa 1,80 Meter lang zu sein und ich werde nie vergessen, dass seine Augen weit aufgerissen waren, während sein Gesicht gegen die Seite der Seitenscheibe schlug. Aber er hat nicht geblinzelt und ich dachte bei mir selbst und ich sagte zu John: ‚Ich glaube, er ist tot'“.
Weil ihn die Kräfte verlassen, seine Schulter ausgekugelt ist und er durch den eisigen Luftzug Erfrierungen an den Armen und am linken Auge erlitten hat, muss er von Simon Rogers abgelöst werden. Er und Kabinenchef John Heward sorgen nun mit aller Kraft dafür, dass der Pilot nicht vollends aus dem Flugzeug gesogen wird. Denn falls sein Körper in das Triebwerk gezogen wird oder gegen die Tragfläche knallt, könnte er dadurch die Maschine zum Absturz bringen.
„Der Pilot ist halb aus dem Flugzeug gesaugt. Ich glaube, er ist tot“
Der Copilot ist schon sieben lange Minuten ohne Kontakt zum Boden, bis er das erste Mal die Stimme des Fluglotsen hört. Er fragt den Tower nach einer Landebahn mit mindestens 2500 Metern, da der Flieger durch das bislang nicht verbrauchte Kerosin an Bord noch ziemlich schwer ist und er befürchtet, dass ein Reifen platzen könnte. Er bittet darum, Gatwick anfliege zu dürfen, da er den Flughafen dort kennt. Aber Southampton liegt näher. Zwar hat der Flugplatz in Southampton nur eine Landebahnlänge von 1700 Metern, doch er muss den Flieger schnell nach unten bringen.
Allerdings sind mit dem kaputten Fenster auch alle Checklisten und Karten davon geflogen, mit denen er sich auf den Landeanflug auf einen unbekannten Flughafen hätte vorbereiten könnte. Jetzt kann ihm nur noch der Fluglotse Chris Rundle helfen. Dieser fragt, ob es außer dem plötzlichen Druckabfall im Flugzeug noch weitere Probleme an Bord gebe. Atchison antwortet: „Der Pilot ist halb aus dem Flugzeug gesaugt. Ich glaube, er ist tot.“ Der Fluglotse traut kaum seinen Ohren: „Man kennt das nur aus Filmen, aber nicht im echten Leben“, erinnert sich Rundle. „Man denkt sich, das kann nicht wahr sein, aber es muss wahr sein.“
35 Minuten nach dem Start in Birmingham und 20 Minuten, nachdem das Fenster samt Pilot hinausgeschleudert wurde, unternimmt Alastair Atchison die schwierigste Landung seiner Karriere. Um 7:55 Uhr morgens landet Flug BA 5390 sicher am Flughafen Southampton. Rettungsfahrzeuge umstellen das Flugzeug und sofort werden die Passagiere über die vorderen und hinteren Treppenstufen hinausgeleitet, während die örtliche Feuerwehr den Flugkapitän zurück ins Flugzeug holt. Wie durch ein Wunder hat er das Unglück überlebt. Er hat neben einem Schock, Prellungen, Blutergüsse und Erfrierungen einen gebrochenen Daumen und Knochenbrüche im rechten Arm und Handgelenk.
„Ich war mir sehr bewusst, dass ich nach oben ging“
Auch, wenn er die meiste Zeit über bewusstlos war, kehren nach und nach die Erinnerungen im Krankenhaus zurück. „Es gab einen lauten Knall, ein Geräusch, als die gesamte Luft entwich. Aber ich erinnere mich daran, wie die Windschutzscheibe sich vom Flugzeug entfernte und dann – wie eine Kugel – in die Ferne verschwand. Und ich war mir sehr bewusst, dass ich nach oben ging.“ Zwar habe er gewusst, dass er halb aus dem Flugzeug hing, jedoch habe ihn das nicht wirklich gestört. Am deutlichsten erinnerte er sich daran, dass er nicht atmen konnte. „Also drehte ich meinen Körper um. In diesem Moment schaute ich über das Flugzeug hinweg zurück und ich konnte atmen.“ Auch an die sich drehenden Triebwerke hat er Erinnerungen und wie er den Heckbereich des Flugzeugs sah. „An diesem Punkt endet meine Erinnerung.“ Unglaublich: Nur fünf Monate später nimmt er seine Arbeit als Pilot wieder auf.
Die kaputte Flugzeugscheibe wird später in der Nähe von Cholsey, Oxfordshire, gefunden. Eine Untersuchungskommission stellt fest, dass der Durchmesser von 84 der insgesamt 90 Bolzen, mit denen sie eingesetzt wurde, zu klein war. Die restlichen sechs Schrauben waren zu kurz. Ein fataler Fehler. Denn anders als bei anderen Flugzeugtypen, bei denen die Windschutzscheiben von innen angebracht werden und der Innendruck der Kabine sie an Ort und Stelle hält, wird sie bei der BAC 1-11 von außen verschraubt. Die große Anzahl an Schrauben ist erforderlich, um ein Austreten von Druckluft durch die Fensterdichtung zu verhindern. Jede Schwachstelle in den Bolzen könnte also bedeuten, dass der Druck im Flugzeug die Windschutzscheibe herausbläst.
Als die Ermittler den verantwortlichen Schichtdienstleister mit den falschen Bolzen konfrontieren, ist er geschockt. Er selbst hat die neuen Schrauben nach Augenmaß ausgewählt und die Scheibe eingebaut. Was er nicht weiß: Auch die vorherige Frontscheibe war bereits mit falschen Schrauben ausgestattet. Immerhin waren diese noch stark genug, um die Scheibe vier Jahre lang ohne Probleme zu halten.
Für Windschutzscheibe verwendete Bolzen waren zu klein
Da er seit zwei Jahren keine Windschutzscheibe mehr gewechselt hatte, hatte er an jenem Morgen nur einen kurzen Blick in das Wartungsbuch geworfen, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Mit einem Bolzen aus der alten Scheiben war er ins Ersatzteillager gegangen, um dort neue zu holen. Dort identifizierte er sie als Schraube vom Typ A211-7D. Und auch wenn der Lagerleiter ihn darauf hinwies, dass für den Einbau dieser Windschutzscheibe eigentlich A211-8D-Schrauben verwendet werden, ignorierte er ihn. Da er nicht genug Schrauben fand holte er weitere aus einem anderen Hangar, erkannte in dem trüben Licht jedoch nicht, dass diese zu schmal waren. Weil der Flieger zudem ungünstig im Hangar stand, musste er sich beim Einbau auf der Hebebühne weit über die Nase des Flugzeugs strecken, um die Bolzen einzubauen. Durch den Blickwinkel , konnte er nicht erkennen, dass die Schrauben nicht richtig passten. Pünktlich um 6 Uhr unterschrieb er die Wartungspapiere und das Flugzeug war bereit zur Übergabe an den Flugkapitän.
Copilot Alastair Atchiston und die Kabinenbesatzungsmitglieder Susan Gibbins und Nigel Ogden werden für ihr heroisches Verhalten mit der Queen’s Commendation for Valuable Service in the Air ausgezeichnet. Atchison erhält 1992 zudem den Polaris Award für herausragende Flugkunst. Das Flugzeug wird repariert und wieder in Betrieb genommen. Trotz des Unglücks kehren alle wieder in ihre Jobs zurück. Nur Ogden, der eine posttraumatische Belastungsstörung erleidet, geht im Jahr 2001 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand und arbeitet später als Nachtwächter in einem Krankenhaus der Heilsarmee.
Sehen Sie oben im Video: In Australien ist dem Piloten eines Kleinflugzeuges eine lehrbuchmäßige Notlandung gelungen. Der 53-Jährige bemerkte kurz nach dem Start einen Fehler im Fahrgestell und musste daraufhin Kerosin verbrauchen, um kurze Zeit später zu dem riskanten Landeanflug anzusetzen.
Quellen: Unfallbericht des Verkehrsministeriums, Mayday: Air Disaster, „The Sydney Morning Herald“, Transkript Flugsicherungskommunikation