Europawahl-Debakel: Die SPD hat einen Kanzler-Malus – und die Grünen sind in der Identitätskrise

Wer freut und wer ärgert sich? Und wer atmet auf? Die stern-Blitzanalyse zu den Ergebnissen der Europawahl.

Die SPD hat jetzt einen Kanzler-Malus

Dass sie hoch gewinnen, hatte in der SPD niemand erwartet – aber das? Im Willy-Brandt-Haus herrscht Totenstille, als die Prognosen einschlagen: 14 Prozent, damit haben die Genossen ihren historischen Tiefstwert bei EU-Wahlen (15,8 Prozent, 2019) nochmal unterboten. Das dürfte Folgen haben, auch für den Kanzler.

Die Sozialdemokraten haben Olaf Scholz in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gestellt, versucht, den Kanzler als umsichtigen und besonnenen Mann in stürmischen Zeiten zu positionieren. Weder der Friedens-Sound hat mobilisiert, noch der Friedens-Kanzler. Letzteres wiegt deutlich schwerer.

Denn das magere Ergebnis ist unweigerlich mit Scholz verknüpft (der gar nicht zur Wahl stand) und zeigt, dass Scholz womöglich eher „lahmer Gaul“ (Jens Spahn) ist als Zugpferd. Ausgerechnet vor den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland und der Bundestagswahl im Herbst 2025.

Auf die SPD kommen nun unruhige Zeiten zu. Der Kanzler ist angeschlagen, die Wahlkampfstrategie ist nicht aufgegangen. Dass die Partei etwas anders machen müsse, sei „glasklar“, sagt Co-Parteichef Lars Klingbeil. „Unsere Leute wollen uns kämpfen sehen.“ Das gelte auch für die Beratungen zum Haushalt 2025. Die SPD müsse „das Beste für unsere Leute“ rausholen, so der Parteichef.

Es dürfte auch eine Botschaft an Scholz gewesen sein. Endlich liefern, gegen alle Widerstände der Koalitionspartner, insbesondere der FDP. Damit die SPD dem angeschlagenen Kanzler noch die Treue hält.

Selbst in der schweren Krise ist die AfD erfolgreich

Die AfD ist wieder da. Zwar erreichte sie nicht die 20 Prozent, die noch zum Jahreswechsel möglich schienen. Doch nach den Skandalen um die EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron sind die prognostizierten gut 16 Prozent für die Partei als gesichtswahrender Erfolg zu werten. Die AfD liegt damit klar vor den drei Ampel-Parteien und hat zudem neben dem linkspopulistischen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) am deutlichsten zugelegt. Die AfD kann machen, was sie will – sie wird gewählt. Selbst größte Turbulenzen in der Partei und undurchsichtige Verbindungen von manchen ihrer Protagonisten zu autoritären Staaten scheinen vielen AfD-Wählern einfach egal zu sein. 

Noch ein Alarmsignal für die etablierten Parteien: In Ostdeutschland ist die AfD laut Prognose die stärkste Kraft. Für die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September ist das für die Partei von enormer Bedeutung. Auch wenn die Ergebnisse der Kommunalwahlen, die mit Ausnahme Berlins überall in Ostdeutschland stattfinden, erst in der Nacht eintrudeln werden: Sie dürften die Dominanz der AfD nur bestätigen.

Das wird für Friedrich Merz kein Durchmarsch

Für Friedrich Merz hat der Abend ein paar schöne Nachrichten. CDU und CSU haben die Wahl klar gewonnen. Die Wahlkampfmaschine der SPD ist kaputt. Die Ampel erlebt ein Debakel. Wirklich euphorisch dürfte das Ergebnis in der Union allerdings auch niemanden werden lassen. Hängen bleibt nämlich auch: Im Osten liegt die CDU abgeschlagen hinter der AfD. Und trotz der dramatischen Schwäche der Ampel-Parteien kratzt die Union gerade mal bei rund 30 Prozent.

Man mag das für kleinlich halten. Ein Sieg ist schließlich ein Sieg und in diesem unübersichtlichen Parteiensystem überhaupt auf 30 Prozent zu kommen, ist keine Selbstverständlichkeit. Stimmt alles. Aber das Ergebnis zeigt eben auch, auf welch tönernen Füßen der Erfolg der Union steht. Sollte die Union darauf gehofft haben, neuen Schwung für die anstehenden Landtagswahlen im Osten zu bekommen, so ist das enttäuscht worden. Mit der starken AfD dürften sie zur Qual werden. 

Was hinzu kommt: Die Europawahl war eine Abrechnungswahl mit der Ampel, das Hoch der Union ist geliehen. Die Bundestagswahl wird personalisierter werden. Erst dann geht um die Kanzlerfrage. Jede noch so kleine Erholung der Ampel-Parteien in den kommenden Monaten dürfte die Nervosität bei den Christdemokraten wachsen lassen und eine Frage ins Zentrum rücken: Schöpft die Union mit Merz wirklich das Potential aus, das sie eigentlich hätte?

So brauchen die Grünen gar keinen Kanzlerkandidaten

Alles über 14,8 Prozent wäre super gewesen. Das wären mehr gewesen als bei der Bundestagswahl. Es wäre nach dem Wunder-Ergebnis bei der letzten Europawahl (20,5 Prozent) sogar das zweibeste Ergebnis in der grünen Geschichte gewesen. Wäre. Gewesen.

Bei rund zwölf Prozent landen die Grünen an diesem Wahlabend, ein Minus von über acht Prozentpunkten. Sie sind nicht zweitstärkste Kraft geworden, weder vor der AfD noch vor der SPD gelandet. Gereicht hat es nur für Platz vier.

Weil es sicher nicht allein an der unbekannten Spitzenkandidatin gelegen haben dürfte, müssen die Grünen nun dringend ein paar Fragen klären: Warum sind sie, die so lange Wählers Liebling waren, so schrecklich unbeliebt? Warum weht ihnen so ein rauer Wind entgegen? Warum gelten sie trotz eines an Selbstverleugnung grenzenden Pragmatismus‘ weiter als Ideologen? Und wie wollen sie dieses Dilemma auflösen: Sie haben jede Art radikaler Klimapolitik beerdigt. Ihre Gegner scheint das nicht zu besänftigen. Aber offenbar enttäuscht es nun die eigenen Leute.

Die Grünen sind inzwischen auf ihr Kernmilieu zurückgeworfen. Vom Erobern anderer Wählerschichten, von Volkspartei gar, kann keine Rede mehr sein. Immerhin eine Frage haben die Wählerinnen und Wähler an diesem Abend selbst beantwortet: So brauchen die Grünen weder Kanzlerkandidat noch -kandidatin.

Nicht einmal Strack-Zimmermann kann die FDP retten

Fünf Prozent. Puh, Glück gehabt, das passt. Das hätte viel schlimmer kommen können. So ist die Stimmung in der FDP.

Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat die FDP stabilisiert. Sie hat einen frechen und offensiven Wahlkampf gemacht, wie man es von ihr erwarten konnte. Sie das Europa-Ergebnis von 2019 wiederholt. Und sie sorgt damit dafür, dass nicht neue Unruhe in die Partei kommt. Das Kalkül der Parteiführung ist aufgegangen: Wer hätte es sonst machen sollen, wenn nicht die streitbare und streitlustige Verteidigungspolitikerin mit hohem Talkshow-Bekanntheitsgrad? Eben. 

Ein Befreiungsschlag aber ist das wahrlich nicht. Der Strack-Zimmermann-Effekt bleibt aus. Auch sie konnte der Partei nicht den Erfolg liefern, der den Schwung bringt, den die Liberalen in diesen Schicksalswochen der Ampel-Koalition so dringend brauchen. Ja, für dieses Europawahl-Ergebnis wird sich Parteichef Christian Lindner nicht wochenlang rechtfertigen müssen. Das ist die gute Nachricht. Alle anderen Probleme aber sind so groß als wie zuvor.

Eine Sahra macht noch keinen Sommer

Partylaune beim Bündnis Sahra Wagenknecht: Erst knapp sechs Monate alt ist die Partei und zieht nun aus dem Stand ins Europaparlament ein. Vorbei auch noch an jener Partei, der viele Führungsfiguren des BSW bis vor kurzem angehörten, der Linken.

Doch es spricht einiges dafür, dass bei den Parteistrategen bald der Kater einsetzen dürfte. Denn gerechnet hatte man mit noch mehr. Zwar stand Parteigründerin Sahra Wagenknecht gar nicht auf dem Wahlzettel. Aber sie war es, die auf den Plakaten zu sehen war.

Fünf Prozent bei der Europawahl sind nicht fünf Prozent bei der Bundestagswahl. Das weiß auch sie selbst. Bei der Europawahl gibt es keine Fünf-Prozent-Hürde, außerdem neigen die Wählerinnen und Wähler eher dazu, mit ihren Stimmen zu experimentieren, als bei der Bundestagswahl.

Verglichen damit fällt das Ergebnis des BSW nicht überragend aus. Nun muss die Partei bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst beweisen, dass sie sich halten kann. Sonst dürfte sie bei der Bundestagswahl 2025 dasselbe Schicksal ereilen wie voraussichtlich die Linke. Diese ist bei der Europawahl in die politische Bedeutungslosigkeit abgesackt. Das Kalkül bei der Linken, dass man nach dem Abgang der umstrittenen Ex-Fraktionschefin Wagenknecht einen Neuanfang machen könnte, hat sich am Sonntagabend endgültig zerschlagen. Dem nächsten Bundestag wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr angehören.