Weihnachten sehnen wir uns nach der perfekten Familienidylle. Dabei flogen in der Bibel die Fetzen – und nicht nur in der heiligen Familie.
Ich bin katholisch aufgewachsen, das heißt mit vielen kitschigen Darstellungen der heiligen Familie: Maria, die Mutter Gottes, Josef der treusorgende Vater, und Jesus, ihr holder Knabe im lockigen Haar – alle so sanft und lieb und überirdisch schön, dass man sich nur beschämt abwenden konnte, angesichts der eigenen Unzulänglichkeit.
Deshalb liebe ich ein Bild des italienischen Malers Simone Martini, der vor über 700 Jahren lebte. Es zeigt Jesus als bockigen Teenager mit verschränkten Armen und wütendem Gesicht, Maria schaut ihn vorwurfsvoll an, Josef hat die Augenbrauen bedrohlich zusammengezogen.
Jesus, ein kleiner Klugscheißer
In dieser Familie hängt der Familiensegen offensichtlich schief und das aus gutem Grund: Der zwölfjährige Jesus war im Menschengewühl des Pessachfestes in Jerusalem verschwunden, was Maria und Josef allerdings erst Tage später auf dem 140 Kilometer langen Rückweg nach Nazareth merkten – so viel zu ihrer elterlichen Aufsichtspflicht – und dann drei weitere Tage brauchten, um Jesus zu finden. Im Tempel. Wo das Pubertier die theologische Elite durch kluge Reden beeindruckte. Größenwahnsinnig. Anstrengend. Ein kleiner Klugscheißer. Heute wäre Jesus vielleicht Klimakleber. Wie konntest du uns das antun, Sohn, sagt Maria.
Wie konnte die Kirche uns das antun, frage ich mich. Wie konnte aus dieser sympathisch unperfekten Familie – eine sehr junge Mutter, biologischer Vater unbekannt, verhaltensauffälliger Sohn – dieser Kleinfamilien-Kitsch werden, nach dem sich die meisten Menschen sehnen, der aber irgendwie nur Stress macht, weil wir nicht perfekt sind? Gerade jetzt, an Weihnachten.
Lauter schräge Familien
Aus der Bibel kann der Kitsch nicht gekommen sein, dort wimmelt es nur so von wilden Familienkonstellationen – Patchwork, Leihmutterschaften, hochbetagte Mütter, leidenschaftliche Affären, außereheliche Kinder, verwitwete Frauen, die Überlebensgemeinschaften bilden und gelegentlich Männer umbringen, nomadische Großfamilien, die mit Sack und Pack durch die Wüste ziehen auf der Suche nach dem gelobten Land und es nicht finden. Alles kommt vor. Nichts ist romantisch. Die Familie ist in der Bibel eine Herrschaftsform, keine Kuschelgruppe. Immerzu muss improvisiert werden, Gott mischt sich ständig ein, nichts läuft so, wie man es geplant hat, die Kinder machen, was sie wollen. Wie im echten Leben.
STERN PAID Streit in der Familie an Weihnachten
Emanzipation statt Kitsch – eine entlastende Botschaft zu Weihnachten
Auf dem Bild von Simone Martini macht Jesus keinerlei Anstalten, seine Eltern zu besänftigen oder sich zu entschuldigen. Im Gegenteil. Er strahlt Entschlossenheit aus. Was wollt ihr eigentlich? Ihr habt mir nichts zu sagen. Ich mach mein Ding. Erstaunlich modern für ein 700 Jahre altes Bild, finde ich. Die Selbstbehauptung des Einzelnen ist wichtiger als die Unterwerfung unter ein vermeintliches Familienidyll.
Was für eine entlastende Weihnachtsbotschaft.