ZDF-Dokumentation: Der Fake-Fall Jule Stinkesocke: Auf der Spur der angeblichen Rollstuhl-Bloggerin

Eine Rollstuhlfahrerin, die Medizin studiert, ein Pflegekind aufnimmt und als Jule Stinkesocke darüber bloggt – klingt toll, oder? Zu toll, um wahr zu sein, wie eine Doku zeigt.

Fragen Sie einmal Ihren Kollegen, Ihre Tante, Ihre Fußballtrainerin, den Freund aus dem Töpferkurs oder die Mutter von nebenan – ganz egal –, ob er oder sie jemals von „Jule Stinkesocke“ gehört hat. Die Antwort wird wahrscheinlich „Nein“ lauten. 

Mit einer relativ großen Wahrscheinlichkeit haben auch Sie selbst noch nie von ihr gehört. Mit mit einer aktuellen Doku versucht das ZDF, diese Wissenslücke zu beheben.

Jule Stinkesocke: Aus dem Netz ins Fernsehen

Kurze Zusammenfassung: 2009 geht ein Internetblog online, in dem eine 15-Jährige über die Zeit nach einem Autounfall schreibt, der sie schwer verletzt und querschnittsgelähmt zurückgelassen hat. Sie postet über die Jahre hinweg regelmäßig Texte, in denen sie von ihrem Leben als Rollstuhlfahrerin berichtet. Wie sie trotz Behinderung selbstbestimmt und selbstbewusst lebt, die Schule meistert, schließlich ein Medizinstudium, ein scheinbar gesundes Sozialleben und die Teilnahme in diversen Sportvereinen – Basketball und Schwimmen – unter einen Hut bringt. 

Laura Gehlhaar (Ableismus)_10.40Uhr

Diskriminierendes Verhalten, Unverständnis und fiese Sprüche von Mitmenschen scheint sie zwar zu erleben, doch diese nerven und verärgern sie höchstens. Verletzen kann die junge Frau offenbar nichts. Immer stark, unermüdlich, ehrgeizig, schlagfertig, erfolgreich – das alles trotz Behinderung. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen dem Blog folgen und bald auch dem dazugehörigen Twitter-Account. Die junge Frau erwähnt, dass sie Julia Gothe heiße. Der Spitzname, unter dem man sie im Netz kennt, lautet allerdings: Jule Stinkesocke. 

Anerkennung für offenherzige Berichte aus ihrem Leben

Der Blog gewinnt Preise und wird in verschiedenen Medien lobend erwähnt. Der Twitter-Account hat schließlich rund 70.000 Follower. Bis sich 2023 mehrere Frauen, die selbst auf Twitter aktiv sind, darüber auszutauschen beginnen, dass diverse Aspekte aus Jules Berichten und aus ihrer Biografie schlicht keinen Sinn ergeben. So will sie etwa ohne Abitur Medizin studiert haben und eine Pflegetochter aufgenommen haben, nachdem sie diese einmal an einem Badesee getroffen hatte. Eine Julia Gothe fand sich zudem weder in den Mitgliedslisten der Behindertensportvereine, in denen Jule angeblich aktiv war, noch kannte man sie in der Klinik, in der sie angeblich arbeitete.

Die bittere Wahrheit: Jule Stinkesocke, die renommierte Bloggerin, existierte nicht. Stattdessen deutete vieles darauf hin, dass ein Mann aus Norddeutschland, selbst Rollstuhlfahrer, die Texte verfasst hatte. Der Verdächtige ist auch in einem Behindertensportverein aktiv. Alles ärgerlich und irritierend, aber nicht kriminell. 

Allerdings: In vielen Posts von „Jule“ ging es um das Thema Sexualität. Bewundernswert offen, wären die Berichte tatsächlich von einer jungen (laut ihrer eigenen Biografie teils noch minderjährigen) Frau gekommen. Verstörend, wenn ein Mann mittleren Alters diese verfasst hat. Oft geht es auch um Themen wie Inkontinenz und den Toilettenbesuch. Und in einem Post berichtet die angeblichen Jule Stinkesocke, dass ihre Pflegetochter von einem Sporttrainer aufgefordert worden sei, sich auszuziehen. All das ist dann eben nicht mehr harmlos.

Menschen im Rollstuhl kommen zu Wort

Die vierteilige ZDF-Dokumentation „WTF is Jule?“, also: Who the fuck ist Jule – wer zu Hölle ist sie? – greift viele dieser Punkte auf. Zu Wort kommen unter anderem Mitglieder des Sportvereins, in dem der Verdächtige bis zu seinem Ausscheiden im Vorstand aktiv war. Erstmals wird greifbar, dass dieser Fall aus einer doch recht kleinen Internet-Blase Auswirkungen im ganz realen Leben hat. Und man lernt die Frauen kennen, die sich zusammengetan haben, um das Fake endlich aufzudecken. Kurios: Bis heute sehen diese sich teils mit Anfeindungen konfrontiert, weil noch immer Nutzer auf X nicht wahrhaben wollen, dass die populäre Rollstuhlbloggerin nicht echt war. 

Die Boss mit Mirjam Kottmann 06.29

In der Doku kommen auch Menschen zu Wort, die selbst im Rollstuhl sitzen. Für viele von ihnen war Jule Stinkesocke zuerst eine große Motivation – dann eine große Frustration. Frenze Huth, eine junge Frau etwa so alt wie die fiktionale Jule wohl wäre, berichtet, wie zermürbend die scheinbar endlosen Erfolge der Bloggerin für sie waren: „Sie schafft das alles so problemlos – warum kann ich das nicht?“ Für echte Menschen mit Behinderungen ist Diskriminierung eben mehr als blöde Sprüche, auf die man frech kontert. Und deshalb schaffte Jules Blog eben kein Verständnis für Menschen im Rollstuhl, wie es viele Fans auch nach der Enttarnung noch behaupteten – sondern er zeichnete ein falsches, geschöntes Bild. Eines, das niemandem schlechte Gefühle bereitete. Wie praktisch.

Falsche Persönlichkeit, echte Konsequenzen

Eine andere Betroffene berichtet, wie sie via Twitter private Nachrichten mit Jule austauschte, weil sie sich medizinische Tipps von ihr erhoffte. Stattdessen forderte die angebliche Kinderärztin von der Frau Fotos ihrer Narbe am Unterleib und reagierte schroff, als sie diese nicht bekam. Nur zur Erinnerung: Hinter dem Account steckte vermutlich ein Mann. Was die ZDF-Doku also gut macht: Zeugen und Beteiligte abseits des Internets als richtige Menschen mit richtigen Leben zeigen. Und Menschen mit Behinderungen aktiv involvieren und zu Wort kommen lassen. 

Frenze Huth sah die angebliche Jule Stinkesocke als Vorbild
© Pascal Schröder

Was vielleicht besser gegangen wäre: Statt des Schauspielers Maximilian Mundt, der die vier Folgen der Doku doch recht aufgekratzt moderiert, wäre vielleicht eine gesetztere Moderation hier besser gewesen. Denn: Die jungen Menschen, die Mundt aus der Serie „How To Sell Drugs Online (Fast)“ kennen, kennen vermutlich auch die groben Fakten zum Stinkesocke-Fall bereits. Wichtiger wäre gewesen, deren Eltern und Großeltern zu erreichen, die das Internet immer noch mit Skepsis betrachten und von dem Fall vermutlich nie gehört haben. Und von dem quirligen Format wohl auch nicht so angesprochen werden, dass sie sich darüber informieren werden.

Der vermeintliche Täter bleibt verborgen

Schade auch: Dem vermeintlichen Jule-Fälscher rückt das ZDF nicht wirklich auf die Pelle. In der gesamten Doku taucht er nur unter einem Decknamen auf. Niemand konfrontiert ihn, außer einem knappen Statement seiner Anwälte taucht er nicht weiter auf. Ja, diese Zurückhaltung wird in Teilen begründet – schließlich dürfte hinter dem 15 Jahre andauernden Aufbau einer Fake-Persona sicher ein persönliches Trauma stecken. Die „Täterschaft“ des Mannes wurde zudem bisher nicht gerichtsfest bewiesen. Und die Aufdeckung von Lügen und Betrug kann, wie auch die Macher der Doku aufzeigen, bitterste Folgen haben: Man denke an den Suizid der Bloggerin Marie Sophie Hingst.

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Dennoch fehlt in einer Dokumentation wie dieser somit einfach ein extrem relevanter Part. Man hätte dem Verdächtigen und besonders seiner Motivation vermutlich doch etwas näher kommen können, ohne ihn zu enttarnen oder justiziable Rufschädigung zu begehen. 

Prädikat: sehenswert

„WTF is Jule?“ ist definitiv sehenswert, erhellend und kurzweilig. Und vor allem ist es fantastisch, dass diese Doku-Reihe überhaupt existiert und ein reines „Internetthema“ so einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Denn was im Netz passiert, bleibt eben nicht nur im Netz – es berührt die Menschen im echten Leben. Da geben junge Frauen in privaten Chats intime Details von sich preis, da fühlen sich Menschen unzulänglich, weil jemand anderem alles so viel leichter zu fallen scheint, da glauben manche, dass Diskriminierung nur aus ein paar dummen Sprüchen besteht. Es ist gut, hier einmal alle ganz realen Folgen der Entlarvung dieser so gar nicht realen Person aufzuzeigen.

Und eine spezielle Pointe hat das ZDF sich bis ganz zum Schluss aufgehoben – auch dafür lohnt das Gucken. 

„WTF is Jule?“ ist in der ZDF-Mediathek zu sehen