Vertrauensfrage: „Die Restampel wollte nicht mit einem Wimmern in die Weihnachtspause gehen“

Olaf Scholz hat seine Vertrauensfrage verloren – und damit auch ganz offiziell den Startschuss für den Wahlkampf gegeben. So kommentiert die deutsche Presse die Abstimmung.

Der Bundestag hat Kanzler Olaf Scholz das Vertrauen entzogen und damit den Weg zu einer Neuwahl am 23. Februar bereitet.

Bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage votierten 207 Abgeordnete für Scholz, 394 gegen ihn und 116 enthielten sich, wie Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bekanntgab. Der Kanzler verfehlte damit wie beabsichtigt die notwendige Mehrheit von 367 Stimmen deutlich.

Scholz schlug Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier daraufhin vor, den Bundestag aufzulösen. Der hat dann 21 Tage Zeit zu entscheiden, ob er zustimmt und eine Neuwahl innerhalb von 60 Tagen ansetzt. Da es im Bundestag eine große Einigkeit darüber gibt, dass die ursprünglich für den 28. September 2025 geplante Bundestagswahl vorgezogen werden soll, gilt die Zustimmung Steinmeiers als sicher. Er hat auch schon signalisiert, dass er mit dem angestrebten Termin 23. Februar einverstanden ist.STERN PAID Jahresendheft 2024 Olaf Scholz 11.58

Olaf Scholz und die Vertrauensfrage: das Urteil der Zeitungen

Die Debatte vor der Abstimmung war schon voll und ganz vom Wahlkampf bestimmt. Und so kommentieren die deutschen Zeitungen die Vertrauensfrage:

„Rhein-Neckar-Zeitung“: „Der Tag der gescheiterten Vertrauensfrage war naturgemäß der Tag des Friedrich Merz. Der Oppositionsführer ließ dabei gegenüber dem Kanzler jeglichen Respekt missen (den Scholz ja wieder zum Schwerpunkt seines Wahlkampfes machen will). Und damit hat Merz maßlos überzogen. Rhetorisch steckt der CDU-Chef mit Ausnahme vom grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck zwar jeden in die Tasche. Wenn er aber Indiskretionen am Rande des EU-Gipfels gegen den ‚Dauerschweiger‘ Scholz preisgibt, nur um diesen bloß zu stellen, dann sucht man vergebens nach dem Unterschied zwischen Merz und den danach folgenden Rednern vom extremen Rand. Freilich – und da machte Merz einen Punkt: Die SPD hat im letzten Vierteljahrhundert länger regiert als jede andere im Bundestag vertretene Partei. Der wirtschaftliche Niedergang, die unerledigten Strukturreformen, der Investitionsstau – das sind alles ihre Baustellen.“

„Kölner Stadt-Anzeiger“: „In der kurzen Zeit bis zur Wahl werden sich die Bürgerinnen und Bürger auf eine Polarisierung einstellen müssen, wie es sie schon lange nicht mehr gab in Deutschland. Das gute daran: Es gibt in der demokratischen Mitte eine echte Wahl, eine echte Alternative zwischen sehr unterschiedlichen Konzepten. Die Union will beispielsweise die meisten Ampelgesetze vom Heizungstausch über das Bürgergeld und das neue Staatsbürgerschaftsrecht bis zur Legalisierung von Cannabis wieder aufheben sowie Steuersenkungen für Unternehmen und eine Abschaffung des Soli durchsetzen. Die Sozialdemokraten setzen hingegen auf Industriehilfen durch den Staat, eine Lockerung der Schuldenbremse, eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Begrenzung der Eigenanteile in der Pflege.“FS Ampel-Momente 09.33

„Schwäbische Zeitung“: „Was die Meister der Zuspitzung missachten: Den Bürgern und Unternehmen im Land machen nicht nur tatsächliche Belastungen wie hohe Mieten, Steuer- und Abgabenlast, überbordende Bürokratie und rückständige Infrastruktur zu schaffen. Sie verlieren auch zunehmend die Hoffnung, dass Politiker in der Lage sind, die Dinge zum Besseren zu wenden – und davon profitieren die Ränder. Denn vor der pragmatischen Lösung scheint, egal ob rechts oder links, das Parteibuch und das Ego der jeweiligen Spitzenkandidaten zu stehen. Diesen Schuh muss sich auch die Union anziehen, die Friedrich Merz bereits im Kanzleramt wähnt. Statt darüber zu sinnieren, welche Ampel-Gesetze sie zurückdrehen wird, sollte sie mehr Klarheit in der Finanzpolitik erkennen lassen. Vielleicht ist der Widerspruch aber auch unauflösbar: Wer in Deutschland an die Macht kommen will, braucht ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Daran scheitert es dann aber mitunter, dass sich die beste Lösung durchsetzt.“

„Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Der Kanzler wollte die Vertrauensfrage verlieren, aber nicht als Verlierer vom Platz gehen. Deshalb hat er vor der Abstimmung nicht nur eine positive Bilanz seiner Regierungszeit gezogen und (…) Allerlei für den Fall seiner Wiederwahl versprochen, sondern auch nicht mit Vorwürfen an die Adresse der ‚Saboteure‘ von der FDP gespart. (…) Aber auch Scholz‘ Herausforderer Merz betrachtete die Debatte nicht als Requiem für die Ampel. Selbst Habeck, der mit routinierter Selbstreflexion begann, redete sich in Rage, als er auf das Wahlprogramm der Union zu sprechen kam. Beim Schlussakt des Scheiterns sollte es noch einmal richtig scheppern. Die Restampel wollte nicht mit einem Wimmern in die Weihnachtspause gehen, und die Opposition nicht ‚Stille Nacht‘ singen. (…)“

„Rhein-Zeitung“: „Ein schales Gefühl bleibt an diesem historischen Tag zurück. Warum haben es drei Parteien der politischen Mitte es nicht vermocht, gemeinsam zu regieren? Zu oft siegte eine rein parteipolitische Linie, sinnige – auch unbequeme – Kompromisse für das Land kamen bei den vielen politischen Eitelkeiten zu kurz. Man wünscht sich für den Wahlkampf und die Zeit danach politische Tiefe, Führungskraft, Konzepte, Mut, die Wahrheit zu sagen. Man schulde den Bürgern Anstand und Ernsthaftigkeit, ruft Olaf Scholz ins Plenum. Die vergangene Legislatur hat genau das vermissen lassen. Nun können die Wähler am 23. Februar 2025 entscheiden.“

„Heilbronner Stimme“: „Olaf Scholz schaltete zwar in den Angriffsmodus, doch wie er der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen will, das bleibt nebulös. Klar ist, dass wir einen Wahlkampf der Schuldzuweisungen erleben werden. Wer ist für die marode Infrastruktur und die Altlasten wirklich verantwortlich, mit denen Robert Habeck den Abstiegsplatz der deutschen Wirtschaft erklärt?

Viel entscheidender aber: Wer spricht im Wahlkampf unangenehme Wahrheiten aus? Bei Hunderttausenden Jobs, die auf dem Spiel stehen, kann es kein weiter so mehr geben. Wer den Menschen vorgaukelt, alles könne so bleiben, wie es ist, der mag zwar kurzfristig Wählerstimmen gewinnen, aber er verliert damit die Zukunft aus den Augen. Es muss offen über längere Wochenarbeitszeiten und vielleicht auch über finanzielle Einbußen gesprochen werden. Wir kommen nur mit einer größeren Leistungsbereitschaft wieder auf die Beine. Wer das nicht erkennt, der hat bei der übernächsten Wahl ganz andere Probleme.“

„Rheinpfalz“: „Die absichtlich verlorene Vertrauensfrage hat die Deutschland-Krise nicht gelöst. Die Menschen im Land wollen raus aus der Kriegsangst, aus der Rezession, nichts mehr hören von Migrationskonzepten, nicht mehr ständig höhere Preise für Butter und Benzin bezahlen. Sie beschleicht das unangenehme Gefühl, dass keine Regierung imstande ist, die Republik zu reparieren. Auch der Unionskandidat löst keine Euphorie im Volk aus. Viele erwarten eine Neuauflage der früher schon unbeliebten GroKo. Und das soll Vertrauen in die Zukunft schaffen?“

„Nürnberger Nachrichten“: „Weil das Verhalten der Populisten so gefährlich ist, sollte das Zurückerobern von Vertrauen und Kompromissfähigkeit ganz oben auf der Agenda der Mitte stehen. Ansonsten geht die nächste Vertrauensfrage am 23. Februar schlecht aus. Bei den nächsten Wahlen geht es um nicht weniger als um die Zukunft unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“

„Weser-Kurier“: „Aus dem Scheitern der Ampelkoalition lassen sich verschiedene Schlüsse ziehen. So zum Beispiel ist es wenig sinnvoll, wenn Parteien an der Regierung sind, aber zugleich mit Blick auf ihre eigene Klientel Opposition spielen wollen. Das kann nicht gut gehen. An diesem Spagat sind in dieser Regierung vor allem die beiden kleineren Partner gescheitert. Zudem war die Ampel kommunikativ ein Desaster: Wer meint, sich mit nach außen getragener Kritik auf Kosten der Partner profilieren zu können, irrt. Deshalb stehen heute alle drei Ex-Ampelparteien in den Umfragen deutlich schlechter da als bei den Wahlen im September 2021. Es ist aber auch ein Versagen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass er es nicht geschafft hat, durch Führungsstärke und mit der Autorität seines Amtes diese Debatten zu unterbinden. Deshalb hat ihm der Bundestag – wie gewünscht – das Vertrauen entzogen.“

„Reutlinger General-Anzeiger“: „Doch anstelle in staatstragendem Ton, den Geist künftiger Zusammenarbeit zu beschwören, teilen die Politiker aller Couleur auf persönlicher Ebene, teilweise unter der Gürtellinie, gegeneinander aus. Dieser teilweise ehrverletzende Umgang jenseits aller sachlicher Argumentation ist nicht nur problematisch hinsichtlich einer Koalitionsbildung nach der Wahl. Durch die permanente Herabwürdigung der politischen Konkurrenz leidet auch das Bild des Politikers im Allgemeinen in den Augen der Bevölkerung. Und damit letztlich die Demokratie an sich.“Stern Kommentar Ökobilanz der Ampel

„Münchner Merkur“: „Sollte es noch einen Grund gebraucht haben, warum man dem Kanzler Scholz das Vertrauen entziehen musste – er lieferte ihn mit seiner Rede im Bundestag. Grotesk, wie der Kanzlerkandidat Scholz gnadenlos mit dem abrechnete, was der Politiker Scholz seit 2018 erst als Vizekanzler, dann als Kanzler (mit) zu verantworten hat. Stillos, wie er gegen den Ex-Partner FDP holzte, dem er die „sittliche Reife“ zum Regieren absprach. Und dazu wiederholte er „bewusst“ seine Erzählung, die Union plane eine ‚Rentenkürzung‘ – obwohl eine gesetzliche Schutzklausel dies verbietet. Friedrich Merz bezichtigte Scholz zu Recht der Lüge. Wer sich, wie die SPD, moralisch gerne über andere erhebt, von ‚Respekt‘ spricht und sich über die (dumme) Wortwahl von der ‚offenen Feldschlacht‘ echauffiert, sollte die eigenen Maßstäbe schon erfüllen.“

„Südwest Presse“: „Was bitte war das? Erst arbeitete sich der Noch-Kanzler an dem Ex-Koalitionspartner ab, trat nach und billigte der FDP-Spitze die nicht nötige sittliche Reife zu. Olaf Scholz verwies auf den Respekt, den er den Menschen im vorherigen Wahlkampf versprochen hatte, zeigte sich aber nicht nur gegenüber Lindner und Co. respektlos. Oder was hält der gescheiterte Kanzler von Gedächtnis und Intelligenz seiner Zuhörer, wenn er Investitionen und Modernisierung des Landes forderte, als habe er in den vergangenen Jahren mit der Regierung dieses Landes nichts zu tun gehabt?“

„Neue Osnabrücker Zeitung“: „Könnte Merz eine echte Wende bringen? Der Kanzlerkandidat der Union hat bereits verbal und programmatisch abgerüstet, weil er fürchten muss, dass er am Abend des 23. Februar 2025 vor der Wahl steht: Kommt Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot?

Beide Optionen bergen das Risiko, dass Merz scholzen und merkeln muss, anstatt Deutschland wieder auf Kurs zu bringen. Angesichts des vergifteten Meinungsklimas dürfte derzeit auch kaum jemand in der Union an der sogenannten Brandmauer zur AfD rütteln. Doch niemand sollte sich täuschen: Es gibt in Deutschland eine Mehrheit jenseits von SPD und Grünen. Enttäuscht Merz diese Mehrheit, könnte es bei der Wahl 2029 bundesweit zu ostdeutschen Verhältnisse kommen – dort ist die AfD mancherorts stärkste Kraft.“Kommentar Olaf Scholz, der Gescheiterte 19:28

„Nordwest-Zeitung“: „Am Ende war die Vertrauensfrage ein geordnetes Misstrauensvotum gegen eine Regierung, die schon lange gescheitert war. Und alle drei Ampel-Parteien haben das zu verantworten. Während die FDP und namentlich Christian Lindner nun die Schelte bekommen, werben Scholz und Habeck als ramponierte Protagonisten dieses Trauerspiels allen Ernstes um Vertrauen für ihre Kanzlerkandidaturen bei den Neuwahlen am 23. Februar. Beide zeichnet dabei eine bemerkenswerte Selbstgefälligkeit aus. Immer noch  fehlt gesunde Selbsteinschätzung. Vor allem fehlt das Gespür für die Hoffnung der Bürger auf einen Neuanfang.“

„Stuttgarter Nachrichten“: „Da spricht der Mann, dessen Regierungskoalition nach drei Jahren zerbrochen ist, fast eine halbe Stunde im Bundestag. Also vor den Mitgliedern des Verfassungsorgans, denen er die Vertrauensfrage stellt, damit vor Ende der Legislaturperiode neu gewählt werden kann. Das ist noch nicht oft vorgekommen in der Geschichte der Republik. Trotzdem kommen Olaf Scholz keine Worte der Demut oder der Selbstkritik über die Lippen.“