In Kitas fehlen Fachkräfte, besonders im Winter müssen deshalb viele bei Grippe schließen. In NRW wird deshalb der Betreuungsschlüssel geändert. Sinnvoll oder fahrlässig?
Eltern in NRW protestieren gegen eine neue Personalverordnung, nach der im Notfall eine Erzieherin, unterstützt von Fachkräften, bis zu 60 Kinder betreuen kann. Besorgte Mütter und Väter haben dagegen eine Petition gestartet. Familienministerin Josefine Paul (Grüne) ist verantwortlich für die umstrittene Lockerung der Personalvorgaben in Kitas.
Frau Paul, in Zukunft kann im Notfall eine Fachkraft bis zu 60 Kinder betreuen. Eltern protestieren, sie haben 150.000 Unterschriften dagegen gesammelt.
Nicht eine Fachkraft betreut 60 Kinder, die neue Personalverordnung sieht vor, dass weiterhin mindestens zwei pädagogische Kräfte eine Gruppe von rund 20 Kindern betreuen. Im Falle einer Einrichtung mit 60 Kinder ist es nun – nur im ganz akuten Ausnahmefall – möglich, dass eine Fachkraft, dazu aber fünf Ergänzungskräfte vor Ort sind. Das sind zum Beispiel Kinderpflegerinnen oder Kinderpfleger und damit Kräfte, die ohnehin in den Einrichtungen arbeiten. Sie kennen die Kinder und haben eine Bindung zu ihnen.
Eltern fürchten, dass so die Qualität in der frühkindlichen Bildung und Betreuung weiter herabgesetzt wird.
Wir stehen vor der Herausforderung, dass viele Angebote eingeschränkt werden müssen, gerade im Winter, wenn es viele Krankheitswellen gibt. Deshalb eröffnen wir hier eine Möglichkeit für die Träger, damit das Angebot aufrechterhalten werden kann. Einerseits, damit Kinder auch weiterhin ein verlässliches Betreuungs- und Bildungsangebot haben, und andererseits, damit Eltern nicht jeden Morgen mit der Frage konfrontiert sind, ob sie heute eine verlässliche Betreuung in Anspruch nehmen können.
Experten empfehlen als Betreuungsschlüssel in der Kita, also für Drei- bis Sechsjährige, eine pädagogische Fachkraft für acht Kinder.
Wir weichen nicht generell von den Bildungsstandards ab, die wir im Kinderbildungsgesetz in Nordrhein-Westfalen festgelegt haben. Mit der neuen Personalverordnung eröffnen wir für einen eingeschränkten Zeitraum lediglich die Möglichkeit, mit Zustimmung des Landesjugendamtes punktuell vom Betreuungsschlüssel abzuweichen.
Wer kontrolliert, dass nach den sechs Wochen wieder der normale Betreuungsschlüssel gilt?
Wenn eine Kita die Mindestanzahl von Fachkräften unterschreitet, muss das auch heute schon ans Landesjugendamt gemeldet werden. Gemeinsam mit dem Landesjugendamt wird dann entschieden, wie in dieser Situation zu verfahren ist, ob das Angebot eingeschränkt werden muss, es zu Teilschließungen kommt oder gar die Einrichtung temporär ganz schließen muss. Und genau auf diesen eingeübten Wegen werden wir die neue Personalverordnung umsetzen. Ich möchte deutlich sagen, dass die Einrichtungen vor Ort sehr verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten umgehen, die sie haben, weil sie natürlich den Kindern, dem Kinderschutz und dem Anspruch an frühkindliche Bildung verpflichtet sind.
Laut einem Bericht aus ihrem Ministerium war im September, also vor der Erkältungs- und Grippewelle, bereits jede dritte Kita in NRW entweder geschlossen oder nur eingeschränkt offen. Wie wollen Sie gewährleisten, dass die neue Personalverordnung nicht zur Dauerlösung wird?
Mit der neuen Personalverordnung schaffen wir eine Möglichkeit für Akutsituationen, von der die Träger Gebrauch machen können. Einrichtungen können nicht dauerhaft den Personalschlüssel senken, sondern höchstens für sechs Wochen. Um solche Situationen zu vermeiden, gehen wir vielfältige Wege, um mehr Fachkräfte zu gewinnen.
Bundesweit fehlen 100.000 Erzieherinnen und Erzieher. Wo sollen die zusätzlichen Fachkräfte herkommen?
Einerseits darüber, dass wir mehr ausbilden. Wir fördern als Land beispielsweise die praxisintegrierte Ausbildung für Erzieherinnen und für Kinderpfleger. Wir erproben in Mönchengladbach ein Modellprojekt für qualifizierte Quereinsteiger. Andererseits sorgen Alltagshelferinnen und Alltagshelfer dafür, dass die pädagogischen Kräfte sich mehr auf ihre pädagogischen Tätigkeiten konzentrieren können. Außerdem wollen wir unbürokratischer als bisher Menschen mit ausländischen Studienabschlüssen zu einer Tätigkeit in der frühkindlichen Bildung zulassen.
Protokoll Erzieherin Kita NRW 19.50
Viele Eltern machen sich große Sorgen, nicht nur um das Wohl ihrer Kinder, sondern auch um das Wohl der Fachkräfte.
Wir haben hohe Belastungssituationen, und deswegen drehen wir an vielen Stellschrauben. Im Haushalt 2025 erhöhen wir die Mittel für die frühkindliche Bildung in Nordrhein-Westfalen auf 5,7 Milliarden Euro. Aber klar ist auch: Der Fachkräftemangel, der sich über Jahre aufgebaut hat, lässt sich nicht über Nacht beheben.
Ist angesichts dieser Personalknappheit der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz noch gewährleistet?
Der Rechtsanspruch ist im Sozialgesetzbuch festgeschrieben, und wir haben auch so viele Kitaplätze wie noch nie im System. Trotzdem müssen wir weiter ausbauen.
Vom Bund gibt es für den Ausbau der Kitas in den nächsten beiden Jahren vier Milliarden. Aber trotz Kita-Qualitätsgesetz gibt es bisher bundesweit keine einheitlichen Qualitätsstandards für die Betreuung der Kleinsten.
Die Bundesregierung wollte Qualitätsstandards entwickeln, mit diesem Anspruch war sie 2021 angetreten. Es ist aber wichtig, dass die finanziellen Zusagen der Bundesregierung eingehalten worden sind, denn sonst sähe es für die Länder noch schwieriger aus.
Ab 2026 wird die Ganztagsschule eingeführt, die Grundschulen werden deshalb Erzieher und Erzieherinnen abwerben, der Personalmangel verstärkt sich.
In Nordrhein-Westfalen bieten heute schon über 90 Prozent der Grundschulen Angebote im offenen Ganztag an. Darauf bauen wir auf. Wir wollen die Bestandskräfte halten und sie sukzessive weiter qualifizieren. Und wir bauen quantitativ aus, damit wir den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz für alle Kinder ab 2026 erfüllen können.
Viele Eltern sind über die Entwicklung in den Kitas, aber auch im gesamten Bildungssystem besorgt, sie verlieren das Vertrauen in die Politik. 150.000 aufgebrachte Mütter und Väter sind schließlich kein Pappenstiel.
Wir haben heute einen anderen Blick auf das System der frühkindlichen Bildung. Politisch wurde es lange vernachlässigt. Aber dieser neue Fokus ist richtig, in der Kita werden schließlich die Grundlagen für Bildungsbiografien gelegt. Einerseits geht es um Chancengerechtigkeit für alle Kinder, andererseits auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bei aller Kritik an der neuen Personalverordnung gibt es auch viele Rückmeldungen von Eltern, Einrichtungen und Kommunen, die sagen: Es ist gut, eine Möglichkeit für einen beschränkten Zeitraum zu haben, damit die Betreuung aufrechterhalten werden kann.