Fünf statt sieben Prozent Mehrwertsteuer auf den Supermarkt-Einkauf: Im TV-Interview schlägt Kanzler Scholz plötzlich eine Entlastung vor. Bloß Wahlkampf oder eine gute Maßnahme?
Dienstagabend, Tagesthemen. Eigentlich geht es um Syrien, um die Ukraine und um die vorgezogenen Neuwahlen, für die Olaf Scholz heute mit einem Brief an die Bundestagspräsidentin den Weg frei macht. Moderatorin Jessy Wellmer befragt den Kanzler, spricht von der „Unsicherheit bei den Leuten“ angesichts der aktuellen Krisen. Da wird Scholz plötzlich unerwartet konkret: „Heute sehen wir, dass die Inflation für die, die genau rechnen müssen, doch noch höher ist – gerade wenn es um Lebensmittel oder Ähnliches geht.“ Deshalb wolle er die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel von aktuell sieben auf fünf Prozent senken. „Das würde ganz vielen, die wenig Geld verdienen, helfen. Und es wäre für den Bundeshaushalt keine übermäßige Belastung.“
Und plötzlich eröffnet die SPD eine Steuerdebatte. Reines Wahlkampfgeklingel? Oder ist da was dran? Klar ist: Die SPD liegt in Umfragen weit hinten. Nicht unwahrscheinlich also, dass Scholz nicht als Bundeskanzler, sondern als Finanzminister aus dem Wahlkampf geht. Doch ganz abwegig ist die Idee nicht: Auch schon während Corona hatte die Bundesregierung den Mehrwertsteuersatz einmal gesenkt. Die Maßnahme lässt sich schnell umsetzen. Nur: Würde sie wirklich die kleinen Leute entlasten? Ein kleiner Check.
Was kostet der Vorschlag?
Rund fünf Milliarden Euro würde es kosten, die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel um zwei Prozentpunkte zu senken. Das erklären einhellig Steuerexperten der Wirtschaftsinstitute IfW und DIW. Umgerechnet auf die Bundesbürger wären das im Schnitt etwa 60 Euro pro Person mehr in der Tasche.
Das wäre sicher finanzierbar, allerdings reißt die lahmende Konjunktur aktuell bereits immer neue Löcher in den Haushalt. Immerhin: Durch eine sinkende Mehrwertsteuer spart auch die öffentliche Hand. So dürfte die Maßnahme am Ende mit vier Milliarden Euro zu Buche schlagen.
Kommt die Senkung bei den Verbrauchern an?
Während Corona wurde schon einmal die Mehrwertsteuer gesenkt – wenn auch nur zeitweise. Bis dahin gab es unter Ökonomen die Sorge, eine kleine Senkung der Mehrwertsteuer würde vom Einzelhandel einfach einbehalten oder nur zu einem geringen Teil an die Kunden weitergegeben. Das Ifo-Institut hat damals 60.000 Preise überwacht, um die These zu prüfen. Das überraschende Ergebnis: Die Steuersenkung wurde von den Supermärkten sogar „vollständig“ weitergegeben.
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Hilft weniger Mehrwertsteuer wirklich den kleinen Leuten?
Wenn über Steuerreformen und die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger gesprochen wird, ist meist von der Einkommensteuer die Rede. Entlastungen dort erreichen allerdings die Einkommenschwachen gar nicht. Ganz anders ist es bei der Mehrwertsteuer. 2016 hat Stefan Bach vom Wirtschaftsinstitut DIW zusammen mit zwei anderen Forschern vom IW und der Freien Universität Berlin ausgerechnet, wie die Art der Steuerbelastung vom Einkommen abhängt. (Für die Details siehe unten „Der Wal in der Badewanne“.)
Das Ergebnis, vereinfacht ausgedrückt: Je weniger man verdient, desto mehr vom Einkommen geht für die Mehrwertsteuer drauf. Die Haushalte, die zum unteren Einkommensviertel gehören, zahlen mehr als 10 Prozent ihres Einkommens an Mehrwertsteuer. An Einkommensteuer fallen weniger als 1,5 Prozent an. Selbst die Haushalte mit mittlerem Einkommen zahlen mehr Steuern auf ihre Einkäufe als auf ihr Gehalt. Erst wer mit seinem Gehalt zum oberen Drittel der Einkommen gehört, zahlt mehr an Einkommensteuer als an Mehrwertsteuer.
Deshalb gilt: Senkt man die Einkommensteuer oder die Sozialabgaben, kommt es bei den Haushalten mit geringem Einkommen nicht an. Will man die weniger gut Verdienenden auf die Schnelle ohne großen bürokratischen Aufwand entlasten, ist man daher bei der Mehrwertsteuer richtig. „Hier profitieren alle“, sagt Wirtschaftsforscher Stefan Bach, „aber es kommt relativ viel bei den kleinen Leuten an.“
Haben Wohlhabende mehr davon?
Zur Wahrheit gehört natürlich: Auch Gutverdienende kaufen im Supermarkt ein und sparen durch eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel. Wie eine ältere Rechnung des DIW illustriert, die Stefan Bach heute auf X postete, würden die ganz Reichen in absoluten Zahlen etwa doppelt so viel Geld sparen, wie die ganz Armen. Bei den mittleren Einkommen sind die Unterschiede aber nicht mehr so groß.
Gibt es eine bessere Lösung?
Will man alle gleich stark entlasten oder gar nur Einkommenschwache, müssten andere Wege gegangen werden. Denkbar wäre eine Lösung wie bei der Idee vom Klimageld: Eine Pauschale, die allen in gleicher Höhe überwiesen wird. Eigentlich hatte sich die Ampel-Regierung vorgenommen, für solche Schritte die technischen Voraussetzungen zu schaffen – unwahrscheinlich, dass es vor der Wahl noch so kommt. Eine schnelle Lösung gibt es allerdings nicht. Gäbe es diese, wäre es möglich, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz abzuschaffen – und dann die Mehreinnahmen als Kopfpauschale an alle zurückzuzahlen. Das würde ausschließlich die kleinen Einkommen entlasten – und Bürokratie abschaffen. Bach hat vor Jahren mal so einen Vorschlag unterbreitet, den sogenannten Mehrwertsteuer-Bonus.
Warum schlägt die SPD das vor?
So ein Mehrwertsteuer-Bonus ginge wohl auch der SPD zu weit. Denn vermutlich ist es ihr ganz recht, dass eine Senkung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von sieben auf fünf Prozent am Ende alle entlasten würde. Die Botschaft ist: Ja, wir haben verstanden. Die Inflation ist hart. Schließlich war das einer der Gründe, der Donald Trump bei der Präsidentenwahl in den USA den Sieg einbrachte. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage für die Verbraucherzentralen gibt ein Viertel der Verbraucher an, angesichts der gestiegenen Kosten kommendes Jahr auf Ersparnisse oder den Dispo zurückgreifen zu müssen. Das Thema brennt den Leuten auch in Deutschland unter den Nägeln.
Die SPD muss dabei auch nach links schielen – zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Dort bringt man die Preissteigerungen in direkten Zusammenhang mit der Unterstützung für die Ukraine. Olaf Scholz hat es direkt in den Tagesthemen ausgesprochen: „Wenn wir die Ukraine unterstützen müssen, wenn wir mehr für Sicherheit ausgeben müssen, dann darf das nicht auf Kosten von Zusammenhalt und Modernisierung gehen. Und plötzlich haben wir weniger Geld für Rente oder Gesundheit oder Pflege oder Straßen.“ Das ist die zentrale Wahlbotschaft der SPD.
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Für Experten: „Der Wal in der Badewanne“
Wer bei Steuerdebatten mitreden will, sollte die folgende Grafik kennen. Sie ist unter Ökonomen bekannt als „Der Wal in der Badewanne“. Wie oben beschrieben, hat der DIW-Forscher Stefan Bach mit Kollegen berechnet, wie hoch der Anteil von Steuern und Sozialabgaben am Haushaltseinkommen ist. Auf der x-Achse sind die Einkommen aufgetragen, sortiert in Prozent nach Höhe: Links sind die niedrigsten Einkommen, rechts die höchsten Einkommen. Bei 50 ist also das mittlere deutsche Haushaltseinkommen aufgetragen. In der y-Achse (nach oben) findet sich dann, wie viel Prozent vom Einkommen an Steuern und Abgaben abgeführt werden muss.
© DIW
Der schwarze Bereich zeigt die Mehrwertsteuer (plus Versicherungssteuer, wie die Mehrwertsteuer auf Versicherungsprodukte heißt). Dunkelgrün sind die Einkommensteuern. Sie bilden zusammen mit den anderen direkten Steuern die „Badewanne“. Der „Wal“, das sind die Sozialabgaben.
Wie die Grafik anschaulich macht, ist die Steuerprogression nicht so ausgeprägt, wie viele glauben. Zwar steigt der Anteil an Einkommensteuer stark mit dem Gehalt. Umgekehrt aber haben Leute mit wenig Einkommen eine viel höhere Last an direkten Steuern. Die Berechnung dieser Grafik ist sehr komplex, weshalb sie nicht regelmäßig aktualisiert wird. Zwar gibt es zum Beispiel keine EEG-Umlage mehr, im Prinzip aber spiegelt die Grafik noch die aktuelle Situation im Steuerrecht wider.