Die ARD-Doku „Die Vice-Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn“ erzählt die Geschichte von „Vice“. Unsere Autorin hat selbst dort gearbeitet und erinnert sich.
Wie Storys für das notorische „Vice“-Magazin entstanden, lässt sich einfach erklären. Es braucht dazu einen Dildo (wichtig: mit Saugnapf) und drei Flipcharts. Den Rest illustriert ein einige Jahre altes Meme. Ein Redakteur wirft darin den Saugnapf-Dildo dreimal über die Schulter. Zuerst auf ein Whiteboard, das „arme Länder“ aufführt (Kuba, Syrien), dann auf die „Minderheiten“ (Geflüchtete, Menschen mit Behinderung), zuletzt auf die „Drogen“ (Xanax, LSD). Heraus kommt eine Reportage über: Transgender Ketamin-Dealerinnen in Venezuela.
Fies gemeint, aber wahr. Für „Vice“ zu schreiben, hieß, nach den vergessenem Gruppen in der Gesellschaft zu fragen. Nach den abgedrehtesten Geschichten zu suchen und aus den dunkelsten Ecken der Gesellschaft herauszukehren. Niemals moralisch, immer auf Augenhöhe. Deshalb wollte ich 2020 unbedingt dort arbeiten. Eventuell spielten auch die Storys über die wildesten Weihnachtsfeiern der deutschen Medienlandschaft (mit Tätowierer) eine Rolle.
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Hieß, denn „Vice“ gibt es nicht mehr – oder kaum noch. Kurz vor dem 30. Geburtstag hat das Magazin Insolvenz angemeldet. Dabei war es einst 4,3 Milliarden Dollar schwer. Neben Werbung finanzierte sich das einstige Independent-Magazin über eine angeschlossene Werbeagentur. Dass diese Agentur deutlich größer war als die Redaktion, hat zu Spannungen geführt. Es ist vielleicht nicht ehrenloser, als wenn große Medien Kreuzfahrten und Couponseiten betreiben. Aber das Geschäftsmodell trug nicht. Im August 2023 hatte ein Investment-Konsortium das Ruder übernommen. Trotz der Rettungsaktion wurden im Februar 2024 hunderte von Mitarbeitern entlassen und angekündigt: Vice.com soll dicht gemacht werden.
Die neue, dreiteilige ARD-Doku „Die Vice-Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn“ erzählt nun die Geschichte von Aufstieg bis Niedergang von „Vice“ noch einmal nach. Deutsche, britische und amerikanische Redakteure kommen zu Wort. Und auch einer der Gründer. Es geht darin um Ethik, Werbung und Machtstrukturen des kleinen Start-ups, das zum milliardenschweren, globalen Konzern wurde – aber cool bleiben wollte. Das kann man sich schon ansehen, richtig nah kommt es dem Phänomen nicht. Leider kommen mehr „Brand Manager“ und „Head of Sales“ zu Wort als Veteraninnen und Veteranen des Gonzo-Journalismus. Und mehr Berlinfloskeln über „ganz viel Freiheit“ in den Nullerjahren als wirkliche Geschichten aus dem Inneren des Konzerns.
Skurrilerweise kommen auch in der Dokumentation weniger als eine handvoll Frauen zu Wort. Es sind mehr nackte Brüste zu sehen, als bekleidete Frauen zu Wort kommen. Darunter Archivmaterial, in dem eine nackte, schwarze Frau „Vice“-Gründer Gavin interviewt. „Vice“ hatte ein Sexismusproblem, aber war damit offenbar nicht allein.
Musste „Vice“ untergehen?
Zwei Jahre lang habe ich für „Vice“ die Geschichten geschrieben, die mir bis heute mehr am Herzen liegen als die meisten anderen. Über eine Frau, deren Eltern ihr bis sie ein Teenager war nicht erzählten, dass sie schwarz ist. Über einen LKW-Fahrer, der Geflüchtete über den Ärmelkanal geschmuggelt hat, und eine junge Jüdin, die eigentlich mit ihrer Religion gebrochen hatte – und dann in einen Terroranschlag geriet.
Ich habe eine Holocaustüberlebende gefragt, ob sie „in Auschwitz auch gute Momente erlebt hat“, und war selbst peinlich berührt über meine Dreistigkeit. Aber das „Vice“-Format „10 Fragen, die du dich niemals trauen würdest zu stellen“ verlangte das eben so – und die Antwort war: Ja. Das Gespräch wurde, wie die meisten Texte, in viele Sprachen übersetzt, auch hebräisch und rumänisch, und hunderttausendfach gelesen.
Ich habe den besten ersten Satz geschrieben, der mir je zugefallen ist: „Dietrich fühlt sich wie Dschingis Khan, als er das erste Mal in einen Becher onaniert.“ Dietrich, ein Samenspender, der mir stundenlang vom heiklen, engen Verhältnis zu seiner Spendertochter erzählt hatte, fand den Satz erst nicht lustig. Seine Tochter schon: Du hast das zu „Vice“ gesagt, was hast du erwartet?
Ich habe Kollegen bewundert, die aserbaidschanische Geheimdienst-Machenschaften im Deutschen Bundestag ausgehoben und einem angesehenen HIV-Arzt, der seine Machtstellung ausnutzte, akribisch hinterher recherchierten. Die danach jahrelang vor Gericht kämpften, um die Verdachtsberichterstattung in Deutschland freizukämpfen.
Umso überraschender, dass eine ehemalige Textchefin in die Doku-Kamera sagt: „Es fehlte eine journalistische Vision.“ Das stimmt nicht, das Meme erklärt sie doch sehr gut. Kurz nachdem ich bei „Vice“ anfing, schlitterte die Welt in die Corona-Krise. In den meisten Redaktionen rotierte es. Was schreiben wir dazu, was die anderen nicht auch schreiben? Niemand bei „Vice“ fragte sich das auch nur eine Sekunde. Es war klar, wohin wir recherchieren, mit wem wir sprechen: Was machen Sexarbeiterinnen, Migranten, Drogen-User jetzt?
Die „Vice“-Strategie hat lange funktioniert. Würden Sie lieber eine Analyse über die Zweistaatenlösung lesen wollen, das Für und Wider der israelischen Militärstrategie? Oder würden Sie klicken, wenn ich hier den „Vice“-Text verlinke, in dem sich ein Redakteur nach dem besten Burger in Gaza auf die Suche macht – und ganz nebenbei vom Alltag im Krieg erzählt? Wenn das nicht journalistischere Vision ist, als die meisten etablierten deutschen Medien haben. Also das Streben, zu erzählen, was ist. Und zwar so, dass die Menschen es auch lesen wollen.
Neonazi im Anflug
Drei Männer haben „Vice“ einst als Skater-Magazin gegründet. „Ein Hipster, ein Hacker und einen Abzocker“, heißt es in der Doku. Einer von ihnen ist heute ein Neonazi: Gavin McInnes. Schräg: Ausgerechnet ihm räumt die ARD-Produktion für ein ausführliches Interview, offenbar in Berlin, viel Platz ein. Gavin McInnes ist Mitbegründer der Proud Boys, einer rechtsextremen, gewaltbereiten Männergruppe, die sich selbst als „westliche Chauvinisten“ bezeichnet. In Kanada gelten die „Proud Boys“ als Terrorgruppe. In Interviews äußerte Gavin McInnes mal seine Zufriedenheit darüber, dass die meisten Hipster in Williamsburg weiß seien. Oder erklärte: „Der Grund, weshalb ich ein Sexist bin, ist, weil Frauen dumm sind.“
Die meisten Protagonisten der ARD-Doku sind vor „Vice“-ästhetische Wände mit bröckelndem Putz gesetzt. McInnies darf schön patriotisch vor einer US-Flagge posieren und entspannt mit einem Glas Bier und Ralph-Lauen-Deutschland-Trikot Interviewfragen über sein journalistisches Vermächtnis beantworten.
Noch kann man durch alte Texte und vor allem: „Vice“-Videos scrollen. Ein Online-Archiv von allem, was Millenials so anstellten, wenn die Eltern nicht hinsahen. Auf Vice.com wird sogar das Horoskop noch täglich neu geschrieben. Darunter steht eine Ankündigung: „Wir bringen das VICE Magazin wieder auf den Markt, in all seiner anzüglichen Pracht, mit vier Ausgaben pro Jahr, lieferbar in die ganze Welt“.
Die vierteilige Doku „Die VICE-Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn.“ ist in der ARD-Mediathek zu sehen