Meinung: Es hätte genauso gut in Deutschland passieren können

Seit September empört sich die Welt über die Vergewaltigungen von Avignon, über Dominique Pelicot, über seine mutmaßlichen Mittäter. Doch das Problem ist kein französisches.

Alle schauen auf Frankreich. Auf Dominique Pelicot, auf Avignon. Auf die Geschädigte, seine Ex-Frau Gisèle. Und vor allem auf seine Taten: Über neun Jahre lang hat er Gisèle betäubt, sie selbst vergewaltigt oder fremden Männern zum Sex angeboten. Teilweise in unbeschreiblich brutaler und erniedrigender Weise. Es gibt Videos davon – über 70 Männer hat die Polizei auf den Aufnahmen erkannt.

Alle schauen auf Frankreich, und überall heißt es seit Monaten: unvorstellbar, schrecklich, monströs. Es ist eine Mischung aus Schaulust und ehrlichem Entsetzen. Mehr aber auch nicht.

Denn auf Deutschland schaut kaum jemand.

Seit dem Prozessauftakt in Avignon ist eine Debatte entbrannt

In Frankreich wird seit Wochen hitzig diskutiert. In Fernsehsendungen, auf Demonstrationen in den sozialen Medien. Die Debatten drehen sich unter anderem um Aufklärungskampagnen – und um „chemische Unterwerfung“, wie die Franzosen die Methode nennen, die Pelicot über Jahre anwandte. 

In Deutschland dagegen wurde der Diskurs allenfalls vereinzelt geführt. Längst ist das Thema wieder von der Bildfläche verschwunden.

Avignon Prozess

Naja, denkt jetzt vielleicht manch einer: Was geht uns schon ein trauriger Einzelfall in Frankreich an? Die Antwort ist: eine ganze Menge – weil es eben kein Einzelfall ist. Warum sollte es solche „Monster“ nur in Frankreich geben? Sind französische Männer besonders grausam, perfide, pervers? Wohl kaum.

Die meisten der Männer, die zu Dominique Pelicot ins Schlafzimmer kamen, waren keine vorbestraften Gewalttäter. Manche dieser Männer, die bereitwillig eine bewusstlose Frau mutmaßlich vergewaltigten, während sie regungslos und schnarchend dalag, wohnten in der Nachbarschaft. Einige wollten ihren eigenen Partnerinnen das Gleiche antun, einer tat es. Andere hingen in Chatrooms ab, in denen darüber gesprochen wurde, was die beste Methode sei, eine Frau zu betäuben, ohne dass sie es merke. Viele dieser Männer sind Familienväter. Sie wurden beschrieben als: liebenswürdig, hilfsbereit, herzensgut. Als respektvoll gegenüber Frauen.

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Die Männer bilden einen Querschnitt der Gesellschaft: ein Soldat, ein Feuerwehrmann, ein Journalist, ein Informatiker, Rentner und Arbeitslose. Arme, Reiche. Alte, Junge. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Familiär Vorbelastete oder Kinder aus Bilderbuchfamilien.

Vor Gericht argumentierten sie damit, dass Gisèle ja nicht nein gesagt habe, dass sie Pelicot einen Gefallen hätten tun wollen, dass Pelicot sie manipuliert habe. Oder dass Pelicot – und diese Aussage ist besonders perfide – doch zugestimmt habe. Warum also sollte man dann noch die Frau fragen? Er habe sie ihnen doch „geschenkt“. Das ist ein wörtliches Zitat aus den Vernehmungen.

K.O.-Tropfen: Zahlreiche mutmaßliche Vergewaltigungen in Erfurt

Es gibt solche Männer auch in Deutschland. Unscheinbare Durchschnittstypen, die in Wirklichkeit ganz anders sind. Männer mit antiquierten Rollenverständnissen, die glauben, der Körper einer Frau gehe mit dem Ring am Finger in den Besitz des Mannes über.

Am Landgericht Erfurt läuft sogar gerade ein ähnlicher Prozess wie in Avignon, über den kaum einer berichtet: Ein heute 34-jähriger Mann soll über Jahre hinweg 17 Frauen mit sogenannten K.O.-Tropfen betäubt, vergewaltigt und seine mutmaßlichen Taten gefilmt haben. Fremde Frauen, aber auch Bekannte und Partnerinnen. Er soll seine Opfer „chemisch unterworfen“ haben. 

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Alles spricht dafür, dass es nicht der einzige Fall ist. Vielleicht gibt es hierzulande keinen Fall wie in Avignon, mit so vielen mutmaßlichen Tätern und nur einem einzigen Opfer. Mit einer so erdrückenden Beweislast von zigtausend Bildern und Videos. Aber es kommt zu Vergewaltigungen von betäubten Frauen. Die Gefahr ist real. Auch hierzulande.

Der gefährlichste Ort für viele Frauen ist ihr eigenes Zuhause. Dort werden sie Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Dort finden sie keinen Schutz, wenn ihr Partner sie angreift. Dort kommt es zu Taten, die niemand bemerkt. Vor allem dann nicht, wenn Betäubungsmittel im Spiel sind, etwa K.O.-Tropfen. Viel zu fest ist der Irrglaube verankert, dass es nur in Discos und Bars zu Vergewaltigungen von Frauen kommt, die zuvor bewusstlos gemacht wurden.

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Es gibt keine offiziellen Zahlen zu solchen Vergewaltigungen, erst recht nicht zu Taten im familiären Kontext. Es ist eine Herausforderung, überhaupt zu erkennen, dass man Opfer geworden ist. Die Betäubungsmittel sind meist nur sechs bis zwölf Stunden im Blut und Urin nachweisbar. Und die Stellen, an die Geschädigte sich wenden können, sind vielen unbekannt – ganz abgesehen von der Scham, diese Stellen auch aufzusuchen.

Lasst uns mehr über Gewalt gegen Frauen sprechen 

Eine von vielen Grausamkeiten an diesen Verbrechen ist: Die Opfer erinnern sich oft nicht daran. Sie sind ahnungslos. Vor allem dann, wenn der Mensch, dem sie vertrauen, der Täter ist.

Avignon Täter Teil 4 16.25

Lasst uns also auch hier in Deutschland darüber sprechen, wie wir unsere Gesetze anpassen können, um solche Taten zu verhindern oder juristisch greifbarer zu machen. In Deutschland wurde das Sexualstrafrecht 2016 reformiert. Seitdem gilt: „Nein heißt nein“. Bestraft wird, wer gegen den „erkennbaren Willen sexuelle Handlungen an einer Person vornimmt“. Die Beweislast liegt beim Opfer. Und wenn es keine Videos gibt, sieht es erst einmal schlecht aus.

Wäre die „Nur ja heißt Ja“-Regelung, die vor dem Sex eine ausdrückliche Zustimmung erfordert, vielleicht eine Lösung? Um eine Vergewaltigung festzustellen, würde es dann ausreichen, die fehlende Einwilligung zu beweisen. Und wer kann schon einwilligen, wenn er bewusstlos wirkt, ist oder kurz davor? In Ländern wie Schweden oder Spanien gibt es diese Regelung bereits.

Kommentar Gewalt gegen Frauen 09.27

Lasst uns darüber sprechen, wie wir mit Vergewaltigungen umgehen, die unter Betäubung begangen werden. Auch im französischen Sexualstrafrecht kommt das Wort „chemische Unterwerfung“ nicht vor. Allerdings gibt es in Frankreich seit 2018 ein Gesetz: Wer einer Person Substanzen verabreicht, die die Urteilsfähigkeit oder die Kontrolle über das eigene Handeln beeinträchtigen könnten, kann mit fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe von 75.000 Euro bestraft werden. Ohne dass es zu einem Übergriff gekommen sein muss.

Wir können nur etwas ändern, wenn wir wirklich verstehen, was genau schiefläuft. Lasst uns also das Problem untersuchen. Lasst uns Daten erheben. Lasst uns aufklären. Was sind Warnzeichen? An wen kann ich mich wenden? Was muss ich tun, wenn ich den Verdacht habe, unter Drogen gesetzt worden zu sein?

Lasst uns – Männer und Frauen gleichermaßen – den Betroffenen zurufen: „Ihr seid nicht allein. Wir sehen euch. Wir glauben euch. Gebt euch nicht die Schuld an dem, was passiert ist.“

Lasst uns hinschauen. Nicht nur in Frankreich.