Chris, 33, rastete immer wieder aus und bekam die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Hier erzählt er, warum er jetzt auf eine bessere Zukunft hofft.
„Als Kind habe ich viel geweint, auch in der Schule. Meine Lehrer konnten damit nicht umgehen. Ich störte und wurde vor die Tür gesetzt. Ich wurde älter, und aus der Trauer wurde Aggression. Ich brüllte rum, war in Schlägereien verwickelt. In der sechsten Klasse rastete ich komplett aus und habe einen Mitschüler schlimm zugerichtet. Ich habe vollkommen die Kontrolle verloren. Der Mitschüler bekam keine Luft mehr – das hätte richtig schlimm ausgehen können. Da bekam ich Angst vor mir selbst.
Von nun an versuchte ich es zu vermeiden, Gefühle zu zeigen. In meinem Inneren blieben alle Emotionen aber sehr lebendig. Vieles war destruktiv, neben Trauer spürte ich vor allem Selbstabwertung. Und Selbsthass. Um mich zu spüren, begann ich mich mit Rasierklingen in Hände und Unterarme zu schneiden. Zwei Suizidversuche schlugen fehl. Beim zweiten Versuch – ich war 15 – trank ich viel Alkohol und nahm Tabletten. Nur durch Zufall wurde ich gefunden, bewusstlos in einem Graben liegend. Aber selbst nach diesem Hilferuf wurde niemand hellhörig. Auch nicht meine Mutter.
Borderline: „Meine Mutter sah meine Probleme nicht“
Sie hätte eigentlich reagieren müssen. Schließlich arbeitete sie als Ärztin in einem Krankenhaus. In unserer Familie war sie die Hauptverdienerin und permanent überarbeitet. Ihr war vor allem die Außenwahrnehmung wichtig. Alles in unserer Familie sollte intakt aussehen. Aber meine Probleme sah sie nicht. Sie wollte auch nicht all den Streit und Druck in der Familie wahrnehmen, unter der mein älterer Bruder, aber vor allem meine sieben Jahre jüngere Schwester litt. Ich habe immer versucht, meine Schwester zu beschützen. Aber ich war überfordert. Ich war ja selbst noch ein Kind.
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Nach dem zweiten Suizidversuch wurde ich medizinisch von meiner Mutter versorgt, aber bekam keine psychologische Hilfe. Mein Vater hatte mich früher zwar geschlagen, ansonsten aber hielt er sich aus der Erziehung seiner Kinder weitgehend heraus. Es gab keinen Trost für mich, keine Zuwendung. Erst recht keine Gespräche über Gefühle. In mir entstand der Eindruck: Du bist es nicht wert, dass sich jemand um dich kümmert. So bin ich aufgewachsen.
„Ich dachte: Du hast höchstens Borderline light“
In der Schule galt ich als Sonderling und wurde gemobbt. Ich habe mich irgendwie durchgebissen und mein Abitur geschafft. Dann begann ich, Software zu programmieren. Das wurde mein Beruf. Meist saß ich 40 Stunden pro Woche allein am Rechner. Ohne Kontakte zu anderen. Auch das tat mir nicht gut. Ich hatte immer mehr mit Konzentrationsproblemen zu kämpfen. Meine Arbeit fiel mir schwerer und schwerer. Meine Hausärztin vermutete Depressionen und überwies mich in die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Im vergangenen Jahr bekam ich hier die Diagnose: Borderline-Störung in Verbindung mit Depressionen und ADHS. Das löste bei mir zunächst eine große innere Abwehr aus. Ich dachte: Du hast höchstens Borderline light.
Aber je länger ich in Therapie war, desto mehr verstand ich meine Erkrankung. Und desto motivierter wurde ich. Ich bekam zum ersten Mal Werkzeuge an die Hand, um mir selbst etwas näher zu kommen. Ich lernte mich ganz langsam selbst kennen. Früher war ich nicht in der Lage, Ziele oder Wünsche zu formulieren. Jetzt, mit 32 Jahren, konnte ich zum ersten Mal meine Bedürfnisse formulieren. Auch das Bedürfnis nach Zuwendung. Das hatte lange Zeit stets Schuldgefühle und starke Bindungsängste ausgelöst. Jetzt bin ich, glaube ich, auf einem guten Weg. Die DBT genannte Therapie (Dialektisch-Behaviorale Therapie, Anm. d. Redaktion) hat mir sehr geholfen. Ich lernte Achtsamkeitstraining, Umgang mit Anspannung und Stress, Umgang mit Emotionen, Umgang mit anderen Menschen – und Selbstwertübungen.
„Dank der Klinik schöpfe ich wieder Hoffnung“
Ich habe durch all das Wissen jetzt eine Art Notfallkoffer bei mir, der mir in Krisen hilft. Ich weiß, was ich tun muss, um nicht in alte Denkmuster und Gefühlszustände zu verfallen. Ich kann zum Beispiel Sport treiben, einen Akupressur-Ring auf der Haut spüren oder auf eine scharfe Chilischote beißen. Starke Reize durchbrechen das Gefühl der Gefühllosigkeit. Oder ich kann bewusst innehalten und meine Gedankenspiralen durchbrechen. Solche Fertigkeiten helfen mir in der Krise sehr. Dank der Klinik schöpfe ich wieder Hoffnung. Mache Pläne. Ich bin stolz auf das Erreichte. Aber natürlich habe ich auch Angst vor der Zeit danach, wenn ich wieder meinen Alltag leben muss. Und auf das, was dann auf mich zukommen wird.“
Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter (0800) 1110111 und (0800) 1110222 erreichbar. Auch eine Beratung über E-Mail oder Chat ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.