Regierungskrise: So liefen die bisherigen Vertrauensfragen für die Bundeskanzler

Sie kann die Reihen schließen oder ins politische Verderben führen: Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers im Bundestag. Nun greift auch Olaf Scholz darauf zurück.

Die Ampel-Koalition ist am Ende. Nach einem erbitterten Richtungsstreit vor allem über den künftigen Kurs in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik kündigte Kanzler Olaf Scholz (SPD) an, Finanzminister Christian Lindner (FDP) aus dem Kabinett zu schmeißen. Die FDP zog daraufhin alle ihre Minister aus dem Dreier-Regierungsbündnis ab – und beendet somit effektiv die Ampel-Koalition. 

Der Bundestag solle am 15. Januar nun über eine Vertrauensfrage abstimmen, sagte Scholz in Berlin. Erwartet wird, dass er diese verliert. In diesem Fall kann der Kanzler den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen. Scholz erklärte, dass Neuwahlen dann theoretisch bis Ende März möglich seien.

Vertrauensfrage wurde bislang fünfmal gestellt

Der zurzeit einzige Weg zu Neuwahlen läuft über die Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler im Parlament, geregelt in Artikel 68 des Grundgesetzes: „Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.“

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Das Prozedere ist – theoretisch – denkbar einfach. Der Bundeskanzler kann jederzeit die Initiative ergreifen und beim Bundestag den Antrag stellen, ihm das Vertrauen auszusprechen. Sollte er dabei keine Mehrheit mehr hinter sich versammeln, kann er den Bundespräsidenten bitten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Eine verlorene Vertrauensfrage wäre der Beleg dafür, dass eine Bundesregierung nicht mehr handlungsfähig ist. Andererseits kann die Vertrauensfrage auch dazu dienen, die Reihen der Regierungsfraktionen zu schließen – wenn sich die Mehrheit der Abgeordneten hinter den Bundeskanzler stellt. Neuwahlen wären in diesem Fall vom Tisch.

Insgesamt fünfmal stellte in der Geschichte der Bundesrepublik der Regierungschef die Vertrauensfrage. 1972 verlor SPD-Kanzler Willy Brandt das Vertrauen einer Mehrheit der Abgeordneten, nachdem einige Parlamentarier zur Unionsfraktion gewechselt waren. Der Bundestag wurde aufgelöst, die SPD erzielte bei den vorgezogenen Neuwahlen ein Rekordergebnis, Brandt blieb Kanzler – Ziel erreicht.

1982 kam es gleich zweimal zum Showdown im Bonner Bundestag. Fragen der Aufrüstung und der Arbeitsmarktpolitik hatten zu Zerwürfnissen in der sozialliberalen Koalition von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) geführt, die Vertrauensfrage sollte das Bündnis disziplinieren, mit Erfolg: Schmidt blieb vorerst im Amt – bis zum Bruch der Koalition im September 1982. 

Der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU) nutze die Gunst der Stunde und versammelte eine Mehrheit von Unions- und FDP-Abgeordneten hinter sich und wurde gemäß Artikel 67 des Grundgesetzes per konstruktivem Misstrauensvotum zum neuen Bundeskanzler gewählt. Um sich für das Amt legitimieren zu lassen, stellte er im Dezember die Vertrauensfrage, allerdings mit dem klaren Ziel, diese zu verlieren und so Neuwahlen herbeizuführen. Denn ein Selbstauflösungsrecht hat der Bundestag laut Grundgesetz nicht. Aus der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 gingen die schwarz-gelbe Koalition als Siegerin und Kohl als Kanzler hervor.

All eyes on Scholz 10.30

Es dauerte 19 Jahre, bis erneut ein Kanzler All-in ging: Gerhard Schröder (SPD) verknüpfte die Vertrauensfrage mit einer konkreten Sachfrage, nämlich der Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan, um den Kampf der USA gegen den internationalen Terrorismus zu unterstützen. In den Regierungsfraktionen von SPD und Grünen rumorte es wegen dieser Frage; Schröder testete seine Macht – und gewann. 

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Nur vier Jahre später stellte Schröder erneut die Vertrauensfrage. Diesmal allerdings – ähnlich wie Amtsvorgänger Kohl 1982 – mit dem Ziel, diese zu verlieren und Neuwahlen herbeiführen zu können. Grund waren unter anderem Reformen in der Sozialpolitik, die auf breiten Widerstand gestoßen waren, und von der SPD verlorene Landtagswahlen. „Geben wir den Menschen die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Staat sie wollen“, erklärte der Kanzler. Nach der Wahl war Rot-Grün am Ende, Angela Merkel (CDU) und eine Große Koalition übernahmen die Macht in der Bundesrepublik.

Bereits im Juni hatte die CDU nach den Europawahlen die Vertrauensfrage von Scholz gefordert, der diese jedoch abgelehnt. Nun kommt es also zum sechsten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zur Vertrauensfrage. Die Schuld am Bruch in der Koalition sieht Scholz bei Finanzminister Christian Lindner (FDP), Scholz kündigte am Mittwochabend an, Lindner aus der Regierung entlassen zu wollen. Dem FDP-Politiker gehe es um die eigene Klientel und um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei. Die Unternehmen im Land bräuchten Unterstützung, sagte er mit Blick auf die schwache Konjunktur und hohe Energiepreise. Er verwies zudem auf die internationale Lage mit den Kriegen in Nahost und der Ukraine. „Wer sich in einer solchen Lage, einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden.“

Quellen: Carsten Linnemann in der ARD; Artikel 68 des Grundgesetzes; Artikel 67 des Grundgesetzes; Deutscher Bundestag zu Vertrauensfragen 1972, 1982, 1982, 2001, 2005; Bundeszentrale für poltische Bildung