Phänomen „ShitFM“: So bringen Sie den inneren Kritiker endlich zum Verstummen

Der innere Kritiker bombardiert uns ständig mit Selbstkritik und negativen Gedanken. Die Neurowissenschaftlerin Laura Wünsch zeigt Wege auf, wie wir ihn zum Schweigen bringen.

Wir alle kennen das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Die Psychologie nennt die ständige Selbstkritik treffend „ShitFM“, ein Begriff, den auch Laura Wünsch verwendet: „Es ist, als hätte unser Gehirn einen Dauersender eingeschaltet, der uns ständig mit negativen Gedanken bombardiert“, sagt die Neurowissenschaftlerin. „Du bist keine gute Mutter“, „Du bist nicht erfolgreich genug“, „Andere machen es besser“ – das sind die Botschaften, die der innere Kanal unaufhörlich sendet. Und obwohl wir wissen, dass diese Gedanken nicht die ganze Wahrheit sind, fällt es unserem Gehirn schwer, sich davon zu lösen.

Die Wurzeln dieses Problems liegen tief in unserer Evolutionsgeschichte. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das von Natur aus darauf bedacht ist, dazuzugehören und nicht ausgeschlossen zu werden. Unser Gehirn ist daher darauf programmiert, ständig andere Menschen und ihr Verhalten zu analysieren, um sicherzustellen, dass wir uns anpassen und nicht außen vor bleiben. Diese Fähigkeit, sich mit anderen zu vergleichen, sei früher überlebenswichtig gewesen, sagt Wünsch: „Unsere Vorfahren mussten sich ständig fragen: Passe ich zur Herde? Vergleiche halfen ihnen, ihre Position in einer sozialen Gruppe einzuschätzen und ihr Verhalten anzupassen. Nur so konnten sie überleben und sich fortpflanzen.“ In der heutigen Welt führe das aber oft zu Stress und Unzufriedenheit. „Deshalb verbiete ich mir ganz bewusst, mich als Person mit den Äußerlichkeiten anderer zu vergleichen und bin deshalb kaum in sozialen Medien unterwegs“, sagt Wünsch.

Soziale Medien lassen den inneren Kritiker lauter werden

Laura Wünsch Teaser

Denn die Medien verstärken diese Dynamik noch. „Unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob das, was wir auf Instagram, Facebook oder TikTok sehen, Realität oder Inszenierung ist“, sagt Wünsch. Wenn wir endlos durch Instagram oder LinkedIn scrollen und die perfekten Bilder, Erfolge und Lebenswege anderer Menschen sehen, glauben wir unbewusst, dass diese Menschen tatsächlich so leben. Dabei zeigen uns die sozialen Medien nur eine verzerrte Version der Realität – eine, die uns glauben lässt, dass wir immer zu kurz kommen. Wir sehen die glänzenden Karrieren, die heilen Familien, die durchtrainierten Körper und das scheinbar makellose Leben der Anderen und fangen an, uns mit ihnen zu vergleichen.

Dabei funktioniert das Gehirn der anderen genauso wie unseres – auch sie haben ihren eigenen „ShitFM“, der ihnen sagt, dass sie nicht gut genug sind. Nur sehen wir das nicht. Wünsch erinnert daran, dass uns nur die glänzende Fassade präsentiert wird. „Perfektion und Erfolg haben aber immer ihren Preis!“ Wer ständig auf Achse ist, um beruflich erfolgreich zu sein, sieht seine Familie und Freunde weniger. Wer einen durchtrainierten Körper zur Schau stellt, folgt einem strikten Trainingsplan und muss auf viele Freuden des Alltags verzichten. „Ich weiß es von mir selbst: Seit ich mich vor drei Jahren selbstständig gemacht habe, sind viele schöne Dinge auf der Strecke geblieben – und das macht mich durchaus traurig“, sagt Wünsch. Doch diese Opfer und Belastungen werden in den sozialen Medien selten thematisiert.

Das hilft gegen quälende Selbstkritik

So bleiben wir mit dem Gefühl zurück, nie genug zu sein – und geraten in Stress. „Solche Momente sind für uns der moderne Säbelzahntiger“, sagt Wünsch. Und statt der Flut negativer Gedanken den Kampf anzusagen, sie bewusst wegzuschieben und aktiv unser eigenes Ding zu machen, hören wir zu, wie der „ShitFM“ weiter vor sich hin dudelt. Wir ziehen die Schultern hoch, bekommen Nacken- und Kopfschmerzen, fühlen uns mies und unzufrieden. 

Der erste Schritt zur Lösung besteht darin, diesen „ShitFM“ zu erkennen – und ihn dann zum Schweigen zu bringen. Wünsch rät: „Machen Sie sich bewusst, dass Ihr Gehirn darauf programmiert ist, negativ zu denken – das ist ein Überbleibsel unserer Evolutionsgeschichte!“ Indem wir diese negativen Gedanken beobachten, ohne sie zu bewerten oder ihnen zu viel Raum zu geben, können wir lernen, sie zu durchbrechen. Es geht darum, den ständigen Vergleich mit anderen loszulassen und sich auf das eigene Innere zu konzentrieren. Statt immer nur nach außen zu schauen, sollten wir uns fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Was brauche ich tatsächlich, um zufrieden und gesund zu sein?

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Sicher nicht, vermeintliche Ideal-Bekanntschaften im Internet zu verfolgen. Als soziale Wesen sollten wir uns lieber „in echt“ mit Menschen verbinden. Vielleicht, indem wir anderen ehrenamtlich helfen. „Anderen zu helfen wirkt sich positiv auf unser Stresssystem aus. Dabei wird unter anderem das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet, ein Gegenspieler des Stresshormons Cortisol“, sagt Wünsch. Ein weiterer Tipp: echte Freundschaften pflegen. Schon ein Freund oder eine Freundin tut der Psyche gut. Für Neurowissenschaftlerin Wünsch sind Freunde sogar der größte Life-Hack: „Freunde nehmen dich so, wie du bist. Sie öffnen ihr Herz, machen dir einen Tee und sind einfach für dich da.“

Das Stressnervensystem regulieren

Um dem Stress auch körperlich etwas entgegenzusetzen, rät Wünsch, aktiv zu werden und Herz und Kreislauf in Schwung zu bringen. „Es reicht schon, die Treppen hochzurennen, auf das Sofakissen einzuboxen oder so viele Liegestütze oder Sit-ups zu machen, bis man nicht mehr kann.“ Sobald wir außer Puste kommen, versteht das Gehirn, dass wir „gekämpft“ und damit angemessen auf den Stress reagiert haben. Das Stressnervensystem kann sich wieder beruhigen – und wir können uns wieder entspannen.

Am Ende des Tages sind wir keine Maschinen, die ständig funktionieren und immer weiter optimiert werden müssen. Es ist okay, nicht perfekt zu sein. Es ist okay, Pausen zu machen und seinen eigenen Rhythmus zu finden. Wenn wir lernen, unseren „ShitFM“ zu ignorieren und auf unsere inneren Bedürfnisse zu hören, können wir ein Leben führen, das wirklich zu uns passt – ohne uns ständig mit anderen vergleichen zu müssen.