Stieber Twins: „Wir haben uns nie als Rapper gesehen“: So holt Streaming zwei Legenden zurück

Mit nur einem Album erreichten die Stieber Twins Legendenstatus. Dem stern verrieten sie, warum es sie erst jetzt im Streaming gibt. Und wie Curse sie aus der Rap-Rente holte.

Legenden – dieses Wort hört man oft, wenn über die Stieber Twins gesprochen wird. Echte Legenden haben die Eigenschaft, mit der Zeit zu verblassen, bis nur noch wenige von ihnen wissen. Auch die Zwillinge Martin und Christian Stieber aus Heidelberg haben den Zenit ihres Ruhmes längst hinter sich. Und sind jetzt trotzdem zum ersten Mal im Streaming angekommen.

Als Martin und Christian auf der Höhe ihres Ruhmes waren, steckte das Internet noch in seinen Kinderschuhen. Bevor die Beginner, Freundeskreis oder später Sido Rap in Deutschland zum Massenphänomen machten, lieferten die 1972 geborenen Zwillingsbrüder mit ihrem Debütalbum den ersten Deutsch-Rap-Klassiker ab. „Es kommen immer noch regelmäßig Leute in meinen Laden, die mir sagen, wie wichtig ‚Fenster zum Hof‘ für sie war. Auch jüngere“, erzählt Martin im Gespräch mit dem stern.

Ein Album mit Gewicht

Wie viel Gewicht der Name Stieber seit Jahrzehnten im deutschen Rap hat, ist schwer zu vermitteln. 1996 erschien das Album, das Rap-Fans noch jahrzehntelang nur in Ehrfurcht nennen sollten: „Fenster zum Hof“ schlug in der damals noch jungen und deutlich familiäreren Hip-Hop-Szene wie eine Bombe ein. Die von Jazz und Funk durchtränkten und trotzdem harten Beats, der mit starkem Kurpfalz-Akzent lässig vorgetragene Rap und die Texte, die vor Authentizität nur so trieften. Der erste Klassiker des Deutschrap, dessen klare Lines später auf unzähligen Songs gesampelt werden würde.

Viele Rapper, die heute Stars sind, schauten früher zu den Stiebers auf – von Jan Delay bis zu Kool Savas. „Die Stieber Twins sind für mich das beste Duo, das Hip-Hop aus Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten hervorgebracht hat“, preist etwa Freundeskreis-Rapper Max Herre die beiden Brüder.

Ein Leben für Hip-Hop

„Wir haben uns nie als Rapper empfunden“, stellt Martin klar. „Wir sahen uns als Teil der Hip-Hop-Kultur.“ Als die Verbindung aus Breakdance, Graffiti, DJing und Rap in den 80er Jahren nach Deutschland schwappt, ist auch Heidelberg, die Heimat der Brüder, im Hip-Hop-Fieber. Lange bevor zuerst Hamburg und Stuttgart und dann Berlin zu den Rap-Zentren des Landes wurden, entstand im beschaulichen Heidelberg eine eng verknüpfte Szene, die alle Elemente des Hip-Hops bediente. Und weit über die Stadtgrenzen hinaus Beachtung erfuhr.

Die Stiebers waren dabei eng involviert. Im Video von „Fremd im eigenen Land“ von Advanced Chemistry, dem ersten politischen Rap-Track auf Deutsch, gibt Christian etwa einen pöbelnden Deutschen.

Mit wenigen Songs zum Legendenstatus

Ihr eigenes Album entstand eher als Reaktion. „Vieles, was damals herauskam, fanden wir einfach albern“, erinnert sich Martin in Abgrenzung zu Bands wie den Fantastischen Vier, die mit Hits wie „Die da“ die Wahrnehmung des deutschen Raps in der Öffentlichkeit geprägt hatten. „Akim, der unsere erste Platte herausbrachte, sagte immer zu uns: Ihr beschwert euch ständig, dann zeigt doch mal was. So waren wir mehr oder weniger gezwungen“, schmunzelt er.

Aus dieser Perspektive ist auch die eigentlich erstaunlich kleine Diskografie des Duos nachvollziehbarer: Trotz ihres Gewichts in der Szene ist „Fenster zum Hof“ ihr einziges Album. Danach erschienen nur noch einmal die EP „Malaria“, die mit Max Herre und Samy Deluxe zwei weitere Rapgrößen als Gäste hat, sowie zahlreiche, wenn auch wie „Ich lebe für Hip-Hop“ von DJ Tomekk, sehr erfolgreiche Singles.

Schwer zu kriegen

Wer die Songs vollständig hören wollte, musste allerdings ungewöhnliche Strapazen auf sich nehmen. Während wir längst die ständige Verfügbarkeit gewöhnt sind, war das Werk der Stiebers nur mit Glück zu bekommen. Trotz ihres kulturellen Einschlags war die LP nie im Streaming verfügbar. Auch die nur in relativ kleinen Auflagen herausgebrachten Tonträger sind schwer zu finden: Gelegentlich in Online-Auktionen auftauchende CDs und Schallplatten werden zwischen 50 und 70 Euro gehandelt. Selbst eine zum 15. Jubiläum erschienene Neuauflage wird kaum unter 50 Euro angeboten.

Jetzt macht Streaming den Rap-Klassiker erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich: Gemeinsam mit der EP „Malaria“ ist sie seit dem 9. November, zunächst exklusiv, bei Apple Music zu finden. „Man musste uns das Streaming erstmal schmackhaft machen. Wir sind nicht so die Modernsten, ich habe auch kein Instagram oder so“, schmunzelt Christian.

Die Einnahmen durch das Streaming sehen beide nicht als Grund. „Das Geld stand für uns nie im Vordergrund“, betont Martin. „Uns geht es in erster Linie darum, es in guter Qualität den Hörern zugänglich zu machen“, erklärt Christian die Entscheidung. „Dass man es einfach im Auto hören kann. Oder jemand, der jünger ist, das als Teil einer Rückschau hören kann.“

Auch bei Apple betont man vor allem die kulturelle Relevanz des Albums. „Wir haben einfach eine Lücke gesehen“, erklärt Aria Nejati, der bei Apples Musikstreamingdienst als Head of Hip-Hop für Deutschland arbeitet. „Diese Platten sind so wichtig für deutschen Rap gewesen – aber sie fehlten im Streaming. Deshalb haben wir dann den Kontakt zu den beiden aufgenommen, um diese Lücke zu schließen.“

Klare Worte, rough verpackt

Ihren trotz der geringen Anzahl von Songs sehr hohen Stellenwert in der Szene können sich die Zwillinge selbst nicht vollständig erklären. „Natürlich gibt es Typen, die technisch weitaus besser rappen“, gibt Martin unumwunden zu. „Wir haben einfach versucht, klar zu kommunizieren, es ohne große Umschweife oder Effekthascherei auf den Punkt gebracht, zusammen mit einem straighten New-York-Style.“ Dabei habe man das Rad nicht neu erfunden, glaubt auch sein Bruder. „Wir haben ja auch einfach unsere Vorbilder nachgeahmt. Die Platten, die uns inspirierten, sind auf dem Cover der LP zu sehen.“

Die Reaktion der Szene hatten sie so nicht erwartet. „Man hat damals etwas herausgebracht – und dann kam erstmal nichts“, erläutert Martin den Unterschied zur heutigen Zeit. „Erst wenn man auf der Bühne stand und alle mitrappen konnten, wusste man: Da hat man etwas geschaffen. Heute ist das viel direkter, man sieht sofort die Klicks, die Reaktionen.“

Christian sieht das nicht als Nachteil. „Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der die Geschwindigkeit von Veröffentlichungen noch nicht so hoch war. Man hat sich früher ein Album auf den Schoß gelegt, du hast es komplett studiert und es regelrecht inhaliert. Heutzutage kommt Bamm-Bamm-Bamm immer das nächste.“

Wieder Stieber Twins

Die Stiebers hörten dagegen auf dem Höhepunkt auf, gemeinsam Songs zu machen. Beide stehen längst im Leben, haben Musik nie als Beruf gelebt. Während Christian als Architekt arbeitet, betreibt Martin mit „The Flame“ seit über 20 Jahren einen eigenen Hip-Hop-Laden. „Wir haben ja beide einen Job, haben Familie. Daher finden wir uns nicht einfach so zum Musikmachen zusammen“, gesteht Christian. Zwar sehen sich die beiden regelmäßig und tauschen sich auch über Musik aus, die Rap-Gruppe Stieber Twins ist aber eigentlich Geschichte.

Dass das Duo nun Jahrzehnte nach dem letzten Song doch wieder zusammenkam, verdanken sie einem langjährigen Freund. „Es musste erst Curse kommen, um uns zu reaktivieren“, erinnert sich Martin an die Entstehung des kürzlich veröffentlichten „Familia“, auf dem Curse neben den Stiebers auch ihre Weggefährten Cora E. und Aphroe wieder aus der Rap-Rente holte. „Wir haben uns als Musikerduo quasi wieder neu zusammengefunden, das ist auch so eine Art Therapie gewesen. Und man stellt plötzlich fest: Man kann es noch!“

Einfach sei der Weg aber nicht gewesen. „Ich habe nie gedacht, dass ich jetzt nochmal rappe. Aber mit der Erwartungshaltung und nachdem wir uns vier Tage zusammen in einer Hütte eingesperrt hatten, klappte es dann eben doch wieder“, erinnert sich Christian an den harten Weg zum neuen Song. „Chris konnte erst gar nicht schlafen, weil er keinen Text für den Song hatte“, lacht sein Bruder. „Manchmal braucht man einen Trainer, der einen auf den Platz stellt und sagt: Jetzt wird geliefert!“

Ganz wird die alte Liebe aber wohl ohnehin nie verblühen. „Es ist schon so, dass Hip-Hop natürlich nicht mehr den Stellenwert hat, wie er ihn in meiner Jugend hatte“, gibt Christian zu. „Aber wenn ich meinen Bruder oder Leute aus dem Kontext sehe, ist die Liebe sofort wieder da. Oder ein neues Lied, das dann auf Dauerschleife läuft, wenn ich etwa auf dem Laufband bin. Auch wenn meine Frau mir dann sagt, dass ich endlich Kopfhörer aufziehen soll.“