Mit dem Mauerfall öffnete sich für mich, der gerade 18 Jahre wurde, die freie Welt. Sie war dann doch etwas anders, als ich sie mir vorgestellt hatte.
Wir hatten während des Zivildienstes das nötige Geld angespart, um es in Travelers Cheques von American Express umzutauschen. Wir hatten die Rucksäcke bis zum erlaubten Fluggewicht von 25,00 Kilogramm vollgepackt. Und wir hatten uns in der Außenstelle der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in der Berliner Clayallee unsere Visa abgeholt. Der Vorgang fühlte sich ungefähr so an wie die Musterung zur Nationalen Volksarmee, nur ohne Visitation des Geschlechtsbereichs.
Nun also waren mein Freund Lorenz und ich über den Atlantik nach New York geflogen. Wir schipperten mit der Staten Island Ferry an der Freiheitsstatue vorbei, ließen uns von messerzückenden Junkies in der U-Bahn bedrohen und besichtigten das golden glitzernde Innere eines Hochhauses, das ein gewisser Donald Trump hatte erbauen lassen. Der Mann stand, wie den Zeitungen zu entnehmen war, kurz vor der Pleite.
Es war bald zwei Jahre her, dass die Mauer gefallen war. Aber in New York begleitete mich jenes Gefühl des Unwirklichen, das ich seit jenem 9. November immer wieder gespürt hatte. Immerhin hatte ich bis zu meiner Volljährigkeit mit der Gewissheit gelebt, dass ich dies alles nie würde sehen können.
Und nun war ich hier. In Amerika.
In der Jugendherberge, deren Adresse ich noch auswendig weiß (Ecke 103th, Amsterdam), kauften wir ein Auto. Die zwei Münchener Jungs, die damit von der Westküste herübergekommen waren, hatten ihren Rückflug am nächsten Tag. Die Ossis befanden sich damit ausnahmsweise in der besseren Verhandlungsposition.
Wir waren keine 20 Jahre alt und hatten noch nie ein Geschäft abgeschlossen. Jetzt zahlten wir 2000 Dollar für einen recht heruntergefahrenen, aber hellblau schimmernden Oldsmobile.
Wenn ich mich jemals völlig frei und selbstbestimmt fühlte, dann war es in diesem Moment. Alles war offen, alles erschien möglich. Es war euphorisierend – und ziemlich beängstigend.
Nie werde ich vergessen, wie ich das Auto inmitten eines schier endlosen Stroms gelber Taxis durch die Schluchten Manhattans steuerte, während Lorenz auf einer dieser kostenlosen Touristenkarten den Eingang zum Lincoln-Tunnel nach New Jersey suchte. Zwei Jahre zuvor waren wir noch in der DDR in die Schule gegangen. Nun fuhren wir quer durch Amerika, ohne Plan und ohne irgendein verdammtes Internet. Das Benzin kostete einen Dollar die Gallone.
Zwei Jahre nach dem Mauerfall
An einem kalten und grauen Novemberabend, daheim stand das zweite Mauerfall-Jubiläum bevor, verließen wir die Interstate, um einen Platz für die Nacht zu suchen. Die Zeltplätze hatten geschlossen, und ein Motel wollten wir uns nicht leisten, das Budget betrug 10 Dollar pro Tag und Person. Also blieb nur das Auto, was ein gewisses Risiko darstellte: Einen Tag zuvor, in Virginia, hatte uns die Highway Patrol auf einem Parkplatz unsanft geweckt.
Es war schon dunkel, als wir die Stadt erkundeten, deren Namen wir noch nie gehört hatten. Aber so erging es uns mit den meisten Orten. Wir wollten nur in einem Wohnviertel eine Lücke finden, wo wir unauffällig die Nacht verbringen konnten.
Während wir durch die Straßen fuhren, kamen wir an einer hell erleuchteten Kirche vorbei, und Lorenz, der ein sparsamer Pfarrerssohn war, hatte eine Idee: Wir könnten doch den Pastor fragen, ob wir auf dem zugehörigen Parkplatz schlafen könnten.
Also überwanden wird uns und betraten die Kirche, die zu unserem Erschrecken voller Menschen war. Der Pastor kam auf uns zu, und wir radebrechten mit roten Köpfen unser Anliegen. Der gute Mann sagte sofort Ja – bat uns aber, vorher noch am Gottesdienst teilzunehmen. Nahost Kolumne 6 – 19.33
Die Menschen, zu denen wir uns setzten, lächelten uns neugierig an. Es waren Baptisten, sie sangen viel und laut. Schließlich hielt der Pastor eine Predigt, in der wir mit unseren DDR-Englischkenntnissen die Worte Wall, East Germany und Samaritan heraushörten. Dann bat er uns, aufzustehen und uns vorzustellen, woraufhin wir unsere Namen murmelten und dafür frenetisch beklatscht wurden.
Später drängten sich um uns die Menschen. Gleich mehrere luden uns wortreich zum Essen ein, wobei ein älter Mann besonders bestimmt wirkte. Er war mit seiner Frau und seiner 16-jährigen Enkelin da und sagte, dass es in seinem Haus viel Platz gäbe und das Abendessen schon bereitstehe. Praise the Lord!
Und so wurden wir Gäste von Myrl und Margaret Moser in Greensboro, North Carolina. Sie wohnten in einem typischen, frei stehenden Reihenhaus nebst großer Garage, vor der die US-Flagge wehte. Myrl war ein pensionierter Master Sergeant der Marine und hatte schon in Korea gedient. Margaret arbeitete als Krankenschwester und engagierte sich überall, wo es sich engagieren ließ, in ihrer Kirche, in Pflegeorganisationen und bei den Töchtern der Amerikanischen Revolution.
Warm und gastfreundlich, statt kalt und kapitalistisch
Sie waren sehr gläubig, sehr konservativ und sehr patriotisch. Sie hatten natürlich Georg Bush (den ohne W) gewählt und baten uns inständig, des Nachts nicht in Unterwäsche zum Badezimmer zu gehen, wegen Jennifer, der pubertären Enkelin.
Als wir am nächsten Tag feststellten, dass Öl aus unserem Auto tropfte, blieben wir. Myrl bestand darauf. Er baute die lecke Ölwanne aus, brachte sie zu einer Werkstatt, wo sie geflickt und gelötet wurde, und baute sie dann wieder ein. Wir standen daneben und reichten die Schraubenschlüssel an.
Erst nach einer knappen Woche fuhren wir weiter, mit guten Wünschen und viel Reiseproviant. Ich fühlte mich beschämt. Mein Bild von den USA war, wie ich mir eingestehen musste, nicht nur von Karl May und Colt Seavers geprägt gewesen, sondern ebenso von einer Propaganda, die Amerika ausschließlich als Aggressor und Klassenfeind gezeichnet hatte, als ein kaltes, kapitalistisches Land voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung.
Damals, im November 1991 in Greensboro, N.C.: Der 19-jährige Kolumnist (mit Hund und üppigem Haupthaar) zwischen Margaret, Myrl und Jennifer Moser
© Lorenz Köhler
Jetzt, da wir dort waren, trafen wir lauter Mosers, wobei wir dies nicht ganz dem Zufall überließen. Greensboro hatte uns – wie formuliere ich das jetzt, ohne dass es zu berechnend klingt – nun ja: inspiriert. Wir steuerten in den folgenden Monaten noch so manche Kirche an und baten gar unschuldig um Erlaubnis, auf dem Parkplatz schlafen zu können. Und jedes Mal fanden wir Aufnahme bei Menschen, vor deren Haus die US-Flagge wehte oder in deren Flur eine signierte Grußkarte von Ronald und Nancy Reagan hing.
Später war ich noch ein paarmal in den USA, ein knappes Jahr studierte ich in Louisiana. Und natürlich sah ich auch das hässliche Amerika, die Segregation, die Gewalt, die Armut. Aber dennoch wuchs in mir stetig der Respekt vor einem Land, das es nicht erst seit 1989, sondern schon seit 1789 mit dieser unbequemen und unberechenbaren Demokratie versucht, in der es keine richtige oder falsche Wahl gibt, sondern eine freie Wahl.
Diese Woche, am Mittwochmorgen, als feststand, dass Trump wieder US-Präsident wird, dachte ich an die Mosers in North Carolina. Ich fand im Netz heraus, dass das County, in dem Greensboro liegt, zu 60 Prozent Kamala Harris gewählt hatte. Gerne hätte ich Myrl und Margaret angerufen und gefragt, für wen sie stimmten.
Aber sie sind vor einigen Jahren gestorben. Sie mussten diese Wahl nicht mehr treffen.
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